Zeugniszeit

Das Beste an dem Blog ist für mich, dass er zeitlich nicht geordnet ist. Er ist wie die Emotion, sie kennt keine Zeit: lange Zurückliegendes ist plötzlich aktuell, Neues wird alt, Altes wird neu. Dieser Tage, im Juli 2020, gab’s Zeugnisse der Enkel*innen. Der Enkel Sandro hatte ein sehr gutes Zeugnis, Phoebe sogar nur Einser, Mia-Fe ausgezeichneten Erfolg. Das vergleiche ich mit den Erinnerungen an meine Zeugnisse.

Am Beginn der 1. Klasse Volksschule hatte ich eine junge, nette und wohlriechende Lehrerin. Ich liebte die Schule. Sagte sie: „Möchte wer was sagen?“ meldete ich mich, so wie ich’s bis heute mache. Meist ging ich zu ihr und erzählte einen Witz. Nach drei Monaten verließ sie uns und bekam ihre Tochter, die heute über 50 Jahre alt sein muss. Die Lehrerin, die dann kam, war für mich wie aus einem Horrorfilm: streng und klar. Ich verlor das Interesse und die Freude an der Schule für die nächsten 12 Jahre.

50. Maturatreffen

Damals hatten wir schon in der 1. Klasse Noten: meine waren für einen Zuwanderer, der in Deutsch aufgewachsen war, schlecht. Lauter Dreier in der 1- Klasse! Keine guten Aussichten für meine Zukunft. So ging‘s weiter: meine häufigsten Noten im weiteren Verlauf waren Vierer und Fünfer. An dieser Grenzlinie verbrachte ich 12 Jahre in der Schule, die mir kein Vergnügen machte. 

Sogar beim fünfzigjährigen Maturatreffen war ich der Schlechteste der Anwesenden. Die drei Klassenprimi gingen froh zur Zeugnisverteilung im 4. Stock der Bibliothek unserer Schule in Wien1, Stubenbastei. Als ich drankam war die Direktorin erstaunt, dass ich ein Sakko und eine Krawatte trug, sie hätte mich auf Grund des Zeugnisses in einem Obdachlosenasyl erwartet.



Aber heute die Enkeln:

Sandro Aaron, Sohn unserer Pflegetochter Doris, versagte in der Schule. Er hat sich selbst aus einer Neuen Mittelschule, früher nannte man das Hauptschule, in das Akademische Gymnasium in Graz versetzt, hat die Direktorin überzeugt, dass er ein Teil dieser Schule sein will aber er hat kleine Nachteile: Beratungsresistenz, lernt wenig, kann gut reden, vergisst aber leicht. Man kann auch sein ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom) anschuldigen. Seine Aufmerksamkeitsspanne beträgt nur einige Minuten vor allem, wenn es nicht um Geschichte, Philosophie oder ähnliches geht. Er ist allerdings nicht der klassische Knabe, der viel Bewegung braucht und deshalb nicht mit der Schule zu Recht kommt, wie Remo Largo es beschreibt. In der Klassengemeinschaft hat er kaum Kollegen, die ihn gewähren lassen, er ist Außenseiter und trägt einen dicken Zopf gekräuselter Haare.

Phoebe Shanaia ist eine wunderbare Schülerin: sie kann und versteht alles, ist sportlich, beliebt, hübsch. Daher hat sie auch ausschließlich Einser in der 3. Klasse des Akademischen Gymnasiums. Sie ist beliebt, elegant, froh.

Mia-Fe, älteste Enkelin, Tochter einer Lehrerin hat einen ausgezeichneten Erfolg in der 3. Gymnasialklasse erreicht. Sie hat Notendurchschnitt 1,45 – das reicht für „ausgezeichneten Erfolg“. Ihre Mutter Anna, die sich so schwer in der Schule getan hat, wie ich und die Stubenbastei nicht geschafft hat, fragt sich woher dieses Kind das hat? Mia ist eine kühle Rechnerin, in ihren sozialen Kontakten berechnend, elegant und kann mit ihrer Mutter gut streiten. 

Drei Schulstars, jeder auf seine Art. Die Diskussion, die am Schuljahresende beginnt, ist jährlich die gleiche: Soll man gute Noten belohnen aber schlechte nicht bestrafen? Kann das System: für jede 1 – 10 €, für jede 2 – 5 €, 3 – nichts, 4: - minus 5 €, 5 minus 10 € gerecht sein, wenn doch die Notengebung angezweifelt wird? Kann die Note etwas über den Menschen aussagen und wird durch die Belohnung Strebsamkeit gefördert, oder nur Notenverbesserung? Soll man dem Notensystem so viel Respekt zollen? Will man die Kinder zu Leistungserbringern erziehen, zu Normleistern, oder doch lieber zu kreativen und vielleicht dann glücklichen Wesen?

Herr Ma hat in seinem Statement beim World Economic Forum zu der Frage der Ausbildung der Kinder gesagt. „Man sollte in den. Schulen kein Wissen mehr vermitteln. Das können die Maschinen besser. Die Kinder sollten Musik, Zeichnen, Basteln und Turnen haben, nicht Lernfächer und Auswendiglernen.“ Herr Jack Ma ist Besitzer des größten Onlinehandels der Welt, Alibaba, von Beruf Englischlehrer. 

Stimmt das? Woher käme dann die Kompetenz sich in den unübersehbaren Daten zu orientieren? Welche Gedächtnisleistung würde dann noch trainiert werden?

Als ich gestern bei einer Nachbarin vorbeiging, die an ihrem Zaun lehnte und auf die Wiese schaute, zitierte ich: „Er stand auf seines Daches Zinnen und schaute mit vergnügten Sinnen auf das beherrschte Samos hin. “Weiter drei Verse konnte ich noch sagen, dann hatte ich meine Stimmung eingefangen. Die Nachbarin die etwa 10 Jahre älter ist als ich, sagte nur: „In der Hitze werde ich immer so müde!“ Schillers „Ring des Polykrates“ löste in ihr kein Gefühl aus.

Schule – so wie beim Fußball scheinen alle zu wissen wie sie sein sollte. In einem Buch von Hannes Brandau an dem ich mitgeschrieben habe, sagt er, dass Menschen als Erwachsene ihre eigenen Schulerlebnisse reproduzieren, wenn sie zum Beispiel zum Elternabend kommen. Schon der Eintritt in das Schulgebäude, der Geruch der gebohnerten Böden aus Holz, der Gestank aus den Garderoben des Turnsaals und die langen Gänge würden Erinnerungen aktualisieren. Bei jedem Elternsprechtag konnte ich das Wiedererleben. Ich war wieder Schüler, schlimmer noch, ich sollte mein Kind gegen die Angriffe der Leher*innen verteidigen und sann auf Schlupflöcher und damit letzten Endes (sie haben’s der Formulierung schon entnommen) auf Rache.

Und jetzt: Jetzt soll, muss, darf ich stolz sein. Die übernächste Generation mag die Schule, lernt gut. Mia saß gestern mit mir am Schwimmbadrand und wir spielten: Frag mich lateinische Vokabeln ab. Einfach so, zum Spaß. Manche der Enkelkinder gehen in Privatschulen, wie die amerikanische Schule und lernen dort, dass es um ihre Fähigkeiten geht, um ihre Talente und nicht um ihre Defizite. Kein Rotstift kränkt ihre Äußerungen. Keine Suche nach ihren Unfähigkeiten, sondern Unterstützung bei ihren Fähigkeiten, erleben sie.

Angesichts dessen kann ich nicht glauben, dass die Welt schlechter wird. Klimawandel, Überbevölkerung und neue Viren: auf dieser Welt, die in sich  ein Wunder ist angesichts eines leeren und kalten Kosmos, hat unsere Spezies immer wieder Herausforderungen zu bewältigen gehabt. Die Geschichte des homo sapiens sapiens ist eine Erfolgsgeschichte. So wie es aussieht, wird sie’s bleiben.