Die Sperre des Karolinen Kinderspitals

Es ist komisch: manche Geschichten träumt man immer wieder. Wie hätte ich mich damals verhalten sollen, wie hätte ich es besser machen können? Obwohl alle Protagonisten des lang vergangenen Dramas tot sind, obwohl es nichts mehr zu sagen gibt, versuche ich beim Aufwachen oder beim Schlafengehen neue Lösungen des alten Konflikts. Ein solcher war die Sperre des Karolinen Kinderspitals 1977. Das geht 43 Jahre später so weit, dass ich die Betriebsversammlung wieder und wieder durchspiele. Je nachdem wie ich zu mir selbst stehe, spiele ich darin eine gute oder eine schlechte Rolle.

Die Betriebsversammlung im Karolinen Kinderspital der Stadt Wien in der Sobieskigasse in Wien 9. war von der Gewerkschaft der Gemeindebediensteten einberufen worden. Rudolf Pöder, Gemeinderat und Obmann der Gewerkschaft kam im schwarzen Anzug mit roter Krawatte in den Speisesaal. Er war ein Mann des Aufstiegs: er brachte er es zum Nationalratsabgeordneten und sogar zum 1. Nationalratspräsidenten, dem dritthöchsten Amt im Staat. Das hätte ich wissen sollen. 

Rudolf Pöder erklärte uns, dass wir durch die Sperre keine Nachteile haben würden. Wir würden zwar den Dienstort wechseln müssen (vom 9. Bezirk in der Nähe der Kreuzung Nussdorferstraße/Gürtel) ins Wilhelminenspital (heute Ottakringer Spital – an der Vorortelinie im 16. Bezirk), aber weder unsere Gehälter noch unsere Urlaubsansprüche oder die Pensionen seien in Gefahr. 

Ich war empört, so weit mir meine Erinnerung keinen Streich spielt. Ich sagte, dass wir dasselbe schon vom Stadtrat Stacher gehört hätten und dass es komisch sein, dass der Gewerkschafter dasselbe wie der Dienstgeber sage. Dass ich mir von meiner Gewerkschaft erwartet hätte, dass sie den Kampf der Dienstnehmer um die Erhaltung des Spitals, das mit der neugegründeten Psychosomatik eine besondere Rolle in der Versorgung der Wiener Kinder einnehme, unterstützen würde. Dass ich es zumindest eigenartig fände, dass Dienstgeber und Gewerkschaft dasselbe sagen. Wozu ich dann Gewerkschaftsmitglied sei und seit Jahren einen Prozentsatz meines Gehalts an die Gewerkschaft abführen würde.

Rudolf Pöder sagte – und das ist fast das Einzige was ich für eine verlässliche Erinnerung halte – ob ich ein Michael Kohlhaas sei? Ob ich mit dem Kopf durch die Wand wolle? Jetzt, wo ich das schreibe, vermute ich, dass ich das schon einmal geschrieben habe. Dass es sein könnte, dass es zweimal in der Biographie vorkommt und zum ersten Mal erschreckt mich das nicht mehr. Denn zu meinem siebzigsten Geburtstag habe ich mir geschenkt, dass zwei Sätze nicht mehr gelten: „Das hast Du schon gesagt!“ oder „Das habe ich Dir schon erzählt!“

Die Bearbeitungen erzeugt ständig neue Szenen. Dass ich nicht – befriedigt vom Anwurf des offensichtlichen Verräters Pöder stolz gewesen sei. Stolz auf mein aufmüpfiges Potential, stolz auf meinen Mut dem mächtigen Mann entgegenzutreten, einem Mann vor dem mein Primar Dr. Hans Zimprich Angst hatte.

Denn die Bearbeitungen meiner Wortmeldung bei der Betriebsversammlung, lassen diese wachsen. Ich werde an guten Tagen oder in guten Nächten immer größer. Ich erweitere den Diskurs mit Rudolf Pöder, beschimpfe ihn mehr als ich es damals getan habe. Damals, so glaube ich, habe ich mich mit der Kenntnis des Dramas von H. v. Kleist begnügt, habe stolz gesagt, dass ich lieber als Michael Kohlhaas aufs Rad geflochten werden will, als als Rudolf Pöder leben.

Heute hätte ich gern gesagt, dass Pöder ein Arbeiterverräter sei, ein Noske, ein Sozialdemokrat, der die Arbeiter verrät und auf die Kommunisten schießen lässt. Heute sage ich in meinen halbwachen Fantasien, dass Michael Kohlhaas der Held eines Theaterstücks und wohl auch einer Epoche Deutschlands sei. Einer der sich auflehnt gegen Fürstenwillkür und Ungerechtigkeit. Heute sage ich in Fantasien, dass ich wüsste, dass er das Geschäft der Beruhigung verfolge, ein Geschäft das ihm mehr diene als jenen die er zu vertreten hätte, denen die ihm sein Mandat gegeben hätten.

Heute wüsste ich, dass ich schon damals meine Chancen auf Aufstieg in der Gemeinde Wien verspielt habe. Ich habe in vielen Momenten meinem Gerechtigkeitssinn, meiner inneren Auflehnung gegen Usancen der Macht und gegen schmierige Typen wie einen Obmann, der die Interessen des Dienstgebers mehr vertritt als die Anliegen der Angestellten argumentiert. Damals hätte ich ihn gern an die Feindschaft am Fiakerplatz im Wien 3  erinnert. An die Feindschaft zwischen uns Mitgliedern des Verbands Sozialistischer Mittelschüler (VSM) auf der rechten Seite des Platzes mit denen des Verbands Sozialistischer Jugend (VSJ) auf der linken. Wir trugen lange Hosen und Hemd, besuchten das Gymnasium; die anderen waren Lehrlinge und Angelernte aus Arbeiterfamilien in Erdberg, hatten raue Sitten, standen dem Proletariat näher, wollten aufsteigen – aber aufsteigen wollte in den sechziger Jahren jede*r. Es gelang auch vielen. Mir zum Beispiel. Ich wurde Titularprofessor für Pädiatrie statt Einzelhandelskaufmann wie meine Eltern die wegen Flucht und Krieg die Schulausbildung unterbrechen mussten. Andere, wie Rudolf Pöder schafften es an die Spitze. Dazu bedurfte es mehr als nur Fleiß oder Sitzfleisch. Dazu bedurfte es eines unbedingten Gehorchens, Loyalität zur sozialistischen Partei. Komisch, dass die in meiner Fantasie stattfindende „Reparatur“ meines karriereschädigenden Verhaltens, meine Identifikation mit der literarischen Figur des Kohlhaas heute noch extremer ist, als ich damals war. Komisch ich denke kaum daran, dass ich mich anders hätte verhalten können. Ich hätte Pöder unterstützen, Liebkind des berühmten Stadtrats Stacher werden können, meinen Weg zum späteren Primariat hätte dort beginnen können. Das alles opftere ich meiner Unangepasstheit statt wie Arnold Pollack, der Vorstand der Wiener Universitätsklinik oder ähnliches zu werden. 2020 ist Arnold Chef des Wiener Tempelvorstands ist und des Krisenstabs. Mein Name ist in der Synagoge, in der ich seit 64 Jahren bin, unbekannt. Jedes Mal fragt mich der Thoravorleser aufs Neue wie ich heiße, wenn ich aufgerufen werde. Ich frage mich: habe ich nichts dazu gelernt in den Jahren seit 1977? Offensichtlich nicht: Die Erinnerungen sind keine, sondern sie sind Beschreibungen meines Wesens. Sie entwickelten sich nicht, weil ich mich nicht entwickelt habe.