Klassenkollegen - die Zweite

Man vergleicht sich immer: besonders, wenn man nach 50 Jahren regelmäßige Klassentreffen im Café Sperl in Wien organisiert. Wer hat was gemacht? Was ist aus dem und jenem geworden? Hat er es besser gemacht, als ich? Von 24 sind 6 gestorben: 1/3, ein  Zeichen – aber in welche Richtung? Wozu diese Treffen? Alte Erinnerungen, nämliche Kommunikationsstrukturen, oder einfach Unterhaltung für unterbeschäftigte Pensionisten? Wer macht’s richtig: die Kommenden, die Teilnehmenden, oder die Fernbleibenden?

Da trifft man sich im Café Sperl in der Gumpendorferstraße in Wien hinter dem Theater an der Wien. Historischer Boden für Wien – Erstaufführungsort der Zauberflöte (1801) in diesem Theater, W. A. Mozart hat noch selbst dirigiert, Schikaneder den Papageno gegeben. Heute ist das Theater die 4. Wiener Opernaufführungsstätte mit gekühlten Sitzen und teils wunderbaren Produktionen.

Als junger Arzt war ich jeden Samstag nach einem Streifzug am Flohmarkt mit Alfred Pfabigan im Sperl. Es war noch von den „richtigen“ Besitzen geführt: Die erhöhte Kasse in der Mitte des Kaffeehauses, dahinter der Besitzer oder seine Frau thronend, alles überblickend, geldgierig und scheinbar wussten sie schon, dass das Kaffeehaus alter Art keine Zukunft hat. Im Film: „Ober zahlen, der im Sperl spielt, oder in einer Kulisse, die das Sperl darstellen könnte, wird der Konflikt zwischen amerikanischem Espresso und altem Kaffeehaus gezeigt. Die alten Freunde Hans Moser und Paul Hörbiger finden, im Film nach schweren Kämpfen zum Schluss zueinander. Heute hat sich alles geändert, der Tod des wiener Kaffees ist ausgeblieben: Touristen stürmen Kaffeehäuser, die in ihren Stadtführern als „typisch“ wienerisch angegeben werden. Sie stehen Schlange vor dem Café Central, oder dem Landtmann. Das Sperl ist zu entlegen und weitgehend verschont, obwohl es durch die Renovierung am wenigsten verändert wurde. Aber – die Schulkollegen: Die drei Klassenprimi: der Pathologe Dr. med. Bernhard Göritzerder Freund und die Stütze meiner Schulkarriere. Der Dramaturg, Regisseurs und Dichters Karl Baratta-Dragono berechtigter Klassenprimus mit einer kleinen Schwäche für den Klassenvorstand Dr. Hans-Heinz Tögl (der von mir mit Gott Kupfer aus F. Torbergs: Der Schüler Gerber verglichen wurde. Als ich nach 21 Jahren in seine Sprechstunde zu ihm kam, um wegen meiner Tochter Judith nachzufragen, die von ihm in der 2. Klasse Gymnasium belehrt wurde,  sagte er: „Die ist genauso ein Idiot wie Du warst!“ Beim Klassentreffen nach 50 Jahren, meinte er mir nie was Böses getan zu haben.)

Karli Barrata-Dragono hat viele Kinder des Hochadels als Nachhilfeschüler*in gehabt und kennt tout Vienne. Pepo Bichler, Finanzamtshofrat i.R. lebt in Hainburg – die Tätigkeit hat sein strenges Bahnwärterssohnwesen nicht gemildert. DI. Herbert Kern, technischer Lehrer und Erfinder, wurde sehr brav erzogen und ist brav geblieben. Da wären aber noch die Schlimmen und die Juden zu denen gehörte: Miguel Beraha, Sohn eines erfolgreichen Händlers, der leider Österreich nicht aufsuchen konnte, weil er sich manchen Verfahren nicht aussetzen wollte und unser aller Ideal an Fröhlichkeit und Eleganz war; Prof. Martin Auer, Sohn des Autokritikers der Volksstimme und bis heute gesellschaftskritischer Kinderbuchautor, Kabarettist und Textdichter; Appel, dessen Vorname ich vergessen habe und der angeblich gestorben ist; Goldemund (Achtung: Nichtjude) – wunderbarer Ping-Pong Spieler, Sohn eines Ministerialrats – will mit uns nichts zu tun haben; Neugebauer – ehemals Chef vom Dienst beim Kurier; Assmann mit immer offenem Mund und Ziel des Spotts von Tögl, insofern mein Schutz, weil ich dann weniger abbekam; und Lang, Sohn eines Spediteurs mit schneller Hand für Ohrfeigen, früh Schizophren geworden und der sicheren Meinung, dass ihn nur eine jüdische Hure retten kann. Die Anderen, die nicht im Mainstream waren, sondern an dessen Rand, waren so wie in Gott Kupfers akademischen Gymnasium.

Wir waren an einer Zeitenwende: in der Unterstufe hatte sich meine spätere Klasse in neonazistischen Umtrieben einen Namen gemacht. Der sozialdemokratische Direktor beschloss daher 1964 Juden in die Klasse zu setzen. Ich war der erste. Ich kam von zwei Gymnasien: Hagenmüllergasse und danach altphilologischer Zweig des BG Kundmanngasse. Man nahm mich, weil ich Jude war. Nicht, weil man einen Stern in der Krone der Absolventen erwartete. Dafür habe ich mich ganz gut entwickelt. Gaube ich.

Da gehe ich nun zur jetzigen Frau Direktor beim Treffen anlässlich des fünfzigsten Jahrestags der Matura und fühle mich wie damals, als ich das Maturazeugnis bekam. Ich sehe plötzlich denselben Blick wie damals, als mir mein Maturazeugnis mit Notendurchschnitt 3,7 überreicht wurde. In allen Fächern, außer Religion, Geschichte und Philosophie genügend. Vielleicht hätte mich die Frau Direktor noch gerne gefragt was aus mir geworden ist. Da ich aber ein gutes Brioni Sakko trug und als Einziger eine Krawatte unterließ sie es – vielleicht wollte sie nicht hören, dass sich die Schule in der Einschätzung meiner Person geirrt hatte, oder dass auch Idioten ein gutes Leben führen können. Wer weiß?

Schon das Wort Klassengemeinschaft ist euphemistisch. Wir konnten uns nicht wirklich leiden und – wie man sieht – erinnere ich bei Vielen nicht einmal die Vornamen mehr. Bernhard ist eine Ausnahme: Ihn können alle leiden – er würde das Kapitel anders schreiben, bei ihm wären alle Namen richtig und alle Umstände korrekt. Aber er schreibt es nicht. Schade.