Woher ich komme

„Das,“ sagt Aaron: „das, das gibt’s reichlich. Alte Juden, die ihre Geschichte erzählen, aus dem Osten kommen und Verwandte in den Lagern verloren haben. In der jüdischen Buchhandlung haben sie das meterweise.“ Genau. Deshalb schreibe ich auch nicht das nächste Buch, sondern setze meine Biographie auf meine Webpage. Dort kann man sie lesen, muss man aber nicht. Daher fängt es natürlich mit meinen Großeltern an.

Alle vier Großeltern waren im Laufe des ersten Weltkriegs vor den Russen in die Reichshauptstadt geflohen. Meine mütterliche Großmutter Syzka Blumenfeld, geborene Landau aus Gorlice vor der großen Schlacht 1915 bei der es den Achsenmächten noch einmal gelang die Russen 300 Kilometer zurückzuschlagen. Meine Urgroßeltern Samuel und Miriam hatten ein Geschäft in dem Waren aller Art verkauft wurden und abends in diesen Räumen eine Schnaps getrunken wurde, das im Zentrum Gorlices lag. Meine Urgroßmutter Miriam war für alles außer Religion zuständig: Haushalt, Geschäft, Schnaps und die nicht-religiöse Erziehung, Ernährung und Bekleidung der Kinder. Samuel betete um Mitternacht wegen der Zerstörung des Tempels zu Jerusalem neben seinem Bett kniend und legte Tefillim (Gebetsriemen) morgens an bevor er das Haus in Richtung Lehrhaus verließ, um die Thora, die mündliche Überlieferung und die Rabbinen zu studieren. Sie hatten acht Kinder, meine Oma war die zweite Tochter. Die sechs Knaben besuchten ab dem 3. Lebensjahr zuerst den Cheder (= Tisch, da die Kinder meist am Küchentisch des Gemeindelehrers unterrichtet wurden), dann die Talmud Thoraschule (in der es wirklich laut war, da die Juden diskursiv lernen und nicht in einem Frontalsystem) und die Begabten die Jeschiwah (die Thorahochschule in der der Schüler sogar Rabbiner, oder Kantor werden kann). Die Mädchen lernten ein koscheres Haus führen und halfen der Mama besuchten die achtklassige polnische Gemeindeschule mit einer röm.-kath. Lehrerin und lasen zu Hause die biblischen Geschichten in Jiddisch, da sie die Sprache der Bibel nicht lernten (oder lernen durften, siehe den Film: Jentel mit Barbara Streisand).

Sonntags nach dem Kirchgang kamen die Bauern aus den umliegenden Orten und Gehöften und kauften eine Hose, oder ein Hemd. Meine Oma Zyska erinnerte, dass ihre Mutter Miriam am Abend nichts mehr anrühren konnte. Die Bauern handelten um jeden Zloty und hieben bei jedem Zloty mit ihrer schwieligen Bauernpranke auf die Hand meiner Urgroßmutter ein. Abgemacht! Die Lebensverhältnisse waren so, wie sie Joseph Roth in seinem wunderbaren Roman: Das falsche Gewicht, darstellt. Dieser wurde von Bernhard Wicki so gut verfilmt, dass ausnahmsweise der Film fast besser ist, als das Buch. Der abgerüstete Unteroffizier Anselm Eibenschütz wird in dem kleinen Stetl Zlotograd Eichmeister und versucht anfangs militärische Zucht und Ordnung aufrechtzuerhalten. Seine Frau, die schon seine Abrüstung wollte, um endlich normal leben zu können, ekelt sich vorm Schmutz und der Armut des Stetls. Sie langweilt sich und beginnt ein amouröses Verhältnis mit dem Sekretär ihres Mannes. Das destabilisiert den Eichmeister, er beginnt zu trinken, verliebt sich in die Roma der Judenschenke, verliert Ansehen, Geld und Selbstachtung. Er wird im Suff erschlagen. Helmut Qualtinger, bis heute unübertroffener Volksschauspieler und Kabarettist der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderjahre, gibt dem Eichmeister ein wunderbar-schreckliches Gesicht. 

Das Leben meiner Großmutter war in Gorlice so: Sechs Knaben und zwei Mädchen lebten in zwei Zimmern. Im Haus gab’s Dienstmägde, einen Stallburschen und Hühner, die am Hof gehalten wurden. Die Knaben wurden ab dem 3. Lebensjahr im Zimmer (Cheder) beschult. Syska war die zweitälteste und hatte im Haushalt zu helfen. Ihre Lehrerin in der öffentlichen Schule spitzte ihren Mund um den jüdischen Nachnamen Landau in ein polnisches „Landauwna“ umzugestalten. Sie rief sie derart zur Tafel, dass Oma verstummte. Nichtsdestotrotz beendet sie die achtklassige Volksschule und war lebenslang stolz auf ihre gut leserliche Kurrenthandschrift in der sie Polnisch und Deutsch schrieb. Bildung zu bekommen, gebildet zu sein –war ihr das Höchste und Wichtigste. Unverständlich blieb ihr daher ich, ihr Enkel der widerwillig in die Schule ging und ein schlechtes Zeugnis nach dem anderen nach Hause brachte. Sie behauptete, dass sie die einzige der Familie war, die das polnische „Ł“ richtig aussprechen konnte. 

Ihren jüngeren Brüdern wurde sie zur Lernhilfe und hat so die Unterstufe des Gymnasiums mitgelernt. Jedes Jahr nähte sie den Brüdern die „Paziklach“ auf die Schultern ihrer Schüleruniform: kleine silberne streifen für die Unterstufe – Prima bis Quarta, güldene für die Oberstufe – Quinta bis zur Matura. Ihr Verhältnis zur im Stelt gelebten Orthodoxie war kritisch. Die Rolle der Frau, die alle praktischen Tätigkeiten überhat, aber nichts entscheiden darf war ihr verhasst. Sie lehnte die absolute Autorität ihres geizig-strafenden Vaters vor dem sie es verstecken musste, wenn sie einen Tropfen des „kostbaren“ Petroleums zum Anzünden des Feuers verwandte, um die Rindssuppe zu Mittag aufzuwärmen. Wenn es Syzka nicht gelang das Feuer im Ofen mit Kienspänen zu entzünden, aßen alle kalte Suppe. Kaltes Fett auf Suppe ekelte sie noch 70 Jahre später. Eine Suppe musste sehr, sehr heiß sein, um Gefallen bei ihr zu finden. Deshalb schickte sie fast alle Suppen in Restaurants zurück – sie waren zu kalt, wenn sie nicht kochten. Das Leben im Stetl vor dem 1. Weltkrieg wird 100 Jahre später romantisiert. In Tat und Wahrheit dürfte es kalt, schmutzig und erbärmlich gewesen sein. Sicher, die Juden wuschen sich die Hände vor jedem Essen, besuchten das rituelle Tauchbad (Mikwe) und das Haus wurde mindestens einmal im Jahr vor dem Pessachfest gründlich gereinigt.  

Die Vorbereitungen für das Frühlingsfest müssen wunderbar gewesen sein. Alles wurde geputzt und gewaschen. Die Reste des Winters, der selbst Lüften kaum zugelassen hatte, wurden rausgekehrt. Das nur zu Pessach verwandte Geschirr wurde aus dem Schrank geholt, für die 7 Tage des Fests wurde ein eigener Borscht (= russische Suppe aus gesäuerten roten Rüben angesetzt, der nur ohne Hefezusatz natürlich säuern durfte (da die Ritualgesetze vorschreiben in dieser Woche nichts Ungesäuertes zu essen). 

Von diesem Pessachborscht sprach Oma wie von einer Götterspeise. Im Wien der 1960iger Jahre hatte weder ein Fass, noch mochte sie rote Rüben schälen und so klein schneiden, noch sechs Wochen warten bis die Hefepilze aus der Luft ihr Werk der Umwandlung des Gebräus in eine saure Suppe erledigt hatten. So bekamen wir zu Pessach 1963 zwar eine Roterübensuppe mit einer geschälten Kartoffel drin, aber das „Gesäuerte“ kam von dem Löffel Sauerrahm, den sie beim Anrichten in die heiße Suppe gab. Es war gut, wir Kinder hätten es weniger sauer vielleicht sogar noch lieber gehabt – aber Oma erinnerte sich mit müdem Zorn nach den Stunden in denen sie das Festmahl des ersten Abends (Seder) vorbereitet hatte, an den Borscht ihrer Kindheit und ihre Suppe konnte dem Vergleich mit der Erinnerung nicht standhalten.