Der berühmte Professor 

Ich wurde in dem halben Jahr in der Turnusausbildung 1978 an der 2. Medizinischen Abteilung des Wilhelminenspitals der Stadt Wien mehrmals strafversetzt. Wahrscheinlich zu Recht: ich war frech (und blieb’s bis heute 2020). Mein Chef Prof. Dr. F. Mlczoch teilte mich bei einem zirka fünfunddreißigjährigen Oberarzt, ein grobschlächtiger Mann mit faschistischen Ideen (Arbeitslager, Ausländerfeind und Patientenhasser) ein, der Sadist und Mörder war. Vielleicht dachte Mlczoch, dass dieser Oberarzt mich disziplinieren könnte, vielleicht war mir mein Ruf auch vorausgeeilt. Der stationsführende Oberarzt hasste, weswegen er Morde verübte, um sie mir entweder anzuhängen oder mein zumindest mein Gewissen zu belasten.

Anfangs war ich Sekundararzt in Ausbildung bei Prof. Moritsch. Ein feinsinniger und gebildeter Professor, 1. Oberarzt, mit fast 60 Jahren frisch verheiratet und daher sportlich. Er hatte eine junge Russin geheiratet, die ihn ausnahm. Moritsch sollte jeden Tag eine Tschechovnovelle lesen. Daher kam er täglich in der Früh zum Kaffee im Schwesterndienstzimmer vor der Visite und fragte mich, ob ich die, oder jene Novelle kenne. A.P. Tschechov hat sehr, sehr viele Novellen geschrieben. Nach ein paar Tagen wurde mir die tägliche Prüfung bei der ich geplant durchfiel zu bunt. Ich las nachmittags eine Novelle in Deutsch und fragte nächsten Tag Prof. Moritsch, ob er sie kenne. Er kannte sie nicht. Ich wurde strafversetzt.

Bei der täglichen Röntgenbesprechung hatten meine Turnusarztkolleg*innen und ich in der letzten Reihe zu sitzen und zu schwiegen. Bilder wurden am Röntgenbildbetrachtungsschirm befestigt, Prof. Mlczoch besprach mit den Oberärzt*innen (es gab nur eine Frau) das Bild und die Krankheit. Wir sahen von hinten nichts. Da es noch keine Handys gab, starrten die meisten in die Luft. Ich nicht. Ich wartete auf ein Bild: ein unregelmäßig verschattetes Lungenröntgen einer fast 40jährigen Frau. „muciod impaction!“ rief der Chef. Er empfand diese Erkrankung als seine Erfindung. Er hatte sie in einer Publikation als eine Form der Cystischen Fibrose beschrieben (2020 findet sich keine elektronische Spur mehr von ihm). Auf dieses Bild hatte ich gepasst: „Herr Professor, das stimmt nicht!“ Erstarren im Raum. Ich stehe in der letzten Reihe des schmalen Raums, von revolutionären reden gegen Professoren geschult, Mlczochs Tochter war auch Marxistin-Leninistin, ich kannte sie. Die Studentenbewegung hatte uns zu Redner gemacht, kein Respekt vor Autoritäten war selbstverständlich. „Unter den Talaren steckt der Muff von tausend Jahren!“ war eine Anspielung auf das tausendjährige Reich und auf die aufgesetzte, wissenschaftliche Objektivität einer Generation von Lehrern, die durch den NS-Staat in ihre Positionen gekommen waren. „Das ist eine psychosomatische Erkrankung!“ rief ich: „Die Frau kommt oft gegen zwei Uhr morgens mit ihrem Zuhälter zu uns, wenn sie genug von der Prostitution hat und besteht darauf, dass man ihr Calcium-Euphyllin in ihre verkalkten Venen spritzt. Dann wird ihr heiß, sie kann wieder atmen, sie lehnt sich zurück, wie ein Opiumsüchtiger, der seinen Schuss bekommen hat.“ Heute, heut, wenn ich das schreibe, glaube ich, dass ich so viele Worte reden konnte. Das war keineswegs so. Schon bei „Frau“ unterbrach mich der Chef: „Wer redet da?“ Es war ganz ungewöhnlich, dass einer der Jüngsten das Wort ergriff. Es war nicht ausdrücklich verboten, aber tabu. Ich stand auf. Mlczoch: „Was sagen Sie da?“ „Es handelt sich um ein psychosozial bedingtes Asthma.“ „Was erlauben Sie sich?“ „Kommen Sie doch um zwei oder drei Uhr früh, oder bestellen Sie die Patientin an einem Vormittag. Sie werden sehen, dass ich Recht habe. Außerdem ist die Injektion nicht ungefährlich.“ (Vierzig Jahre später ist das Medikament wegen der geringen therapeutischen Breite nur mehr für sehr schweres Asthma bronch. Und unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen zugelassen.) Wegen dieses faux pas wurde ich wieder strafversetzt.

1. Strafversetzung: Von dem lieben und netten Prof. Dr. Moritsch zu einem Sadisten. Dieser Oberarzt, sein Name bleibe ungenannt, kam nur einmal in das Zimmer in dem ich Krankengeschichten diktierte und sagte, dass er die Zuständigkeitsbereiche trennen werde, um meine Fehler besser identifizieren zu können. Er veranlasste mich eine Leberpunktion bei dem alkoholkranken Sohn der Putzfrau des Chefs zu machen, obwohl ich das noch nie gemacht hatte und daher nicht konnte. (2020 würde das kein Ausbildungsarzt mehr machen – das Selbstbewusstsein der Ärzte und Ärztinnen ist besser geworden.) Er tötete vorzugsweise Patient*innen, die ich mochte. Zuerst einen Mann im 1. Bett des großen Saals: ein Arbeiter, der auf der Sandleiten im Gemeindebau wohnte und beim Bau der Reichsbrücke mitgearbeitet hatte. Franz hatte Bauchschmerzen und ich vermutete ein Magengeschwür. Hienerth ordnete eine Magenpassage mit Kontrastmittel und gleichzeitig eine Konstrastmitteldarstellung des Dickdarms an. Das Zusammenkommen dieser Unmengen an nicht resorbierbarem Brei ließ das Geschwür platzen. Franz verblutete in meinem Nachtdienst, auch weil der diensthabende Oberarzt einer Verlegung an die Chirurgie nicht zustimmte. Vor der Verlegung hätte er nämlich den Patienten selbst sehen müssen und dazu aufstehen.

Ein distinguierter, alter Herr ersuchte mich seine Frau nicht in ihrem schwerkranken Zustand zu entlassen. Er sei allein mit ihr zu Hause und könne sie nicht pflegen. Ich riet ihm ab mich als Überbringer zum Oberarzt auszuwählen. Er konnte es aber nicht in der wöchentlichen Sprechstunde vorbringen, die Entlassung war für tags darauf schon fixiert. Er wollte, dass ich die Entlassung verhindere. Bei der Nachmittagsvisite brachte ich den Wunsch vor. Ich wurde verspottet. Sie wurde entlassen. Nach drei Tagen starb sie zu Hause in ihrem Kot. 

Oder: Ein sechzigjähriger Weinbauer zeigte im Blut ein Enzymmuster, das zu chronischem Alkoholismus passte. Der Mann sagte mir jeden Tag, dass er nie Alkohol trinke. Er wisse zu gut wie sich das auswirken könnte. Hienerth machte sich über mich und den Patienten lustig. „Alkoholiker trinken heimlich, oder unheimlich.“ sagte er gern. Mich verspottete er als gutgläubig. Der Mann starb an einem Thrombosegeschehen in der Lunge, das vorher ein ähnliches Enzymmuster gezeigt hatte. Hienerth heuchelte Notfallhilfe und Betroffenheit. Für den Tod des Mannes machte er mich verantwortlich. Ich hätte die Anamnese nicht gut genug gemacht, deshalb sei der Mann nun tot. Ich war traurig.

2. Strafversetzung: Sommer im Labor. Die Laborantin war in Urlaub, ihre Vertretung erkrankt. Ich wurde ins Labor versetzt – da kam kein anderer in Frage. Täglich etwa 200 Harnanalysen, 3-400 Mal Spucke auf Tuberkelbazillen untersuchen, 100 Blutbilder. Im Normalbetrieb machten das zwei Laborantinnen, ich konnte das nicht leisten. Vor allem hatte ich keine Einschulung erhalten und war im Chemiepraktikum eine Katastrophe gewesen, wurde wegen „Verschüttens gefährlicher Substanzen“ vorzeitig ausgeschlossen und konnte das Pflichtseminar mit einem ausnahmsweise genehmigten Kolloquium abschließen. Täglich sagte ich dem vorbeikommenden Chef, dass meine Befunde unverlässlich seien. „Bemühen Sie sich!“, war die Antwort. Die Laborantinnen kamen zurück, oder meine Befunde waren zu schlecht (vor allem fand ich nie einen Tuberkelbazillus in der aufwändigen Färbung nach Ziehl-Neelsen, vielleicht auch weil es 1978 in Wien keine Tuberkulosekranken mehr gab.) jedenfalls kam es zur

3. Strafversetzung: Dritter Stock – Tuberkulosestation mit Lungenkrebs, Frauen. Alle hatten Krebs. Der Tag begann mit der Frage: „Wer ist letzte Nacht gestorben?“ Wir Jungärzte spritzten Opiate in verhärtete, abgemagerte Popos. Einmal blieb die wiederverwendbare Kanüle im Gesäß stecken und das Opiat spritzte nach der Injektion zurück, so hart war das Gewebe der Todgeweihten geworden. Jeden Tag durfte ich Lungen durchleuchten – der Röntgenapparat war aus dem 2. Weltkrieg, dem Stationsführenden hatte er die Haare auf den Fingern weggebrannt. Wir ließen die Dosimeter vor der Türe liegen, sonst hätte sich ablesen lassen, dass der Apparat so streute, dass er nicht mehr verwendet werden darf. Ich wurde einmalig eingeschult. Ich wusste aus der Anatomie welche Lunge zwei und welche drei Flügeln hat, das war‘s. Meine Durchleuchtungen wurden kontrolliert – Ergebnis: ich hatte das Falsche gesehen. Viel Sadismus in der riesigen Abteilung, gefördert durch den allgegenwärtigen Tod. Diese Stationsschwester sprach andauernd von ihrem Schäferhund. Ich, nicht faul, fragte ob sie es mit ihm mache (typische Frage eines 68iger Studenten) – sie wissen was folgte: Strafversetzung.

Am Ende der sechs Monate hatte ich zwei Mal Glück. Prof. Moritsch stürzte vom Pferd. Er brach sich das Schlüsselbein beim Reiten. Er bekam einen Desault Verband, den er humorvoll Fessault nannte. Hilflos lag er im Bett. Ich besuchte ihn im Nachtdienst. Er fühlte sich wie kurz vor einem Delirium tremens. Er war gewohnt abends eine Flasche Wein zu trinken. Ich brachte ihm heimlich eine aus meinem Fundus, der sich durch Patientengeschenke immer wieder auffüllte. Ab dann waren wir wieder „Freunde“. Tschechow war vergessen. Leider starb er bald darauf als er beim Klettern abstürzte. Eine junge Frau macht eben nicht jung, sondern kindisch. 

Letztes „Glück“: Der Bürgermeister von Apetlon starb an einem Ösophaguscarcinom. Man hatte ihn monatelang belogen, indem man sagte er würde gesund, es sei nur eine Bronchitis und dergleichen mehr. Das war damals das Extraservice für Klassepatienten. Zum Sterben kam kein Verwandter. Ich wurde mit Herbert in ein Zimmer gebracht und blieb 36 Stunden bei ihm, so lange der Todeskampf dauerte. Herbert hatte Miserere, er erbrach Stuhl. Kurze Momente war er wach, diktierte mir ein Testament, dass sich in sich ständig widersprach, verfluchte die nicht Anwesenden, enterbte sie wieder, wollte mir alles geben, bot mir ein Haus und zwei Rösser an, fluchte, spie Kot, riss sich die Kleidung vom Leib, wollte fliehen, mal mit mir, mal weg von mir, immer vorm Tod, hasste sein Elend und den Gestank. Ich schrieb Testamentfetzen, die er unterschrieb und bald danach zerriss. Es war ein Tod wie ihn R. M. Rilke im Malte beschrieb – das kann ich nicht. 

Das halbe Jahr endet sehr gut: gebückt kam Prof. Mlczoch an meinem letzten Tag auf Station. Ich fragte besorgt: „Haben Sie Kreuzschmerzen, Herr Professor?“ Irgendwie liebte er an mir, dass ich immer Arzt und Helfer war, egal ob es mir nützte oder schadete. „Kommen Sie, Scheer, kommen Sie ins Schwesternzimmer.“ Unterm Mantel hatte er zwei Weinflaschen verborgen. Er schenkt sie mir, wie auch ein sehr, sehr lobendes Zeugnis mit der Bemerkung: „Für die innere Medizin müssen Sie noch sehr viel lernen, aber sie werden es weit bringen!“ Ich brachte es nicht so weit, wie er. Aber weiter als die Meisten meiner Jahrgangskollegen. Heute findet man vom ehemaligen 1. Oberarzt bei Prof. Fellinger und Leiter der 2. Med. Abteilung nichts mehr im Netz. Nicht einmal in der Gesellschaft der Ärzte in Wien. So obliegt es mir ihm ein ehrendes Andenken zu bewahren.