Zivildienst in einem burgenländischen Städtchen

Als Zivildiener war ich einem Landeskrankenhaus im Burgenland zugewiesen. Ich war dort der erste ärztliche Zivildiener, inmitten einer Schar von Jägern und Militaristen. Selbst der Koch des Krankenhauses war langdienender Unteroffizier gewesen. Meine Erlebnisse sind unspektakulär, widerlich und waren für mich eine Auseinandersetzung mit dem Landleben.

1980 wurde ich als Zivildiener dem Landeskrankenhaus Oberpullendorf zugeteilt. Die Zuweisung lautete: Hilfsarbeiter in Haus und Garten. Mit dem ärztlichen Direktor war abgemacht, dass ich während meiner Tätigkeit die Ausbildung zum praktischen Arzt vollenden würde. Der Verwaltungsdirektor verurteilte diese Täuschungsabsicht ebenso wie die Militaristen des LKHs, die Zivildienst grundsätzlich ablehnten. Als Arzt zu arbeiten widersprach dem Zuweisungsbescheid. Ablehnung überall: Der Koch machte während meines Frühstücks die Backrohre auf in denen der Schweinebraten für Mittag briet auf; der Oberarzt sprach mit mir nur das Nötigste; ein Kollege erzählte von seiner einjährigfreiwilligen Ausbildung zum Fähnrich und bekam von den Schwestern beim Gabelfrühstück viel schwarzgeräucherten Speck – ich den Rest. 

Ein Jahr vorher wurde ich als psychosomatischer Leiter der Familienpannenhilfe eingeladen. Diese Organisation hielt vierzehntägige Behandlungen sozial deklassierter Familien mit psychosomatisch kranken Kindern im Roten Kreuz Haus in Bernstein ab. Gunter Weißenbacher, Gründungsprimar der Abteilung für Kinderheilkunde in Eisenstadt, stellte mich dem Chef des LKH Oberpullendorf Ch. Egermann vor. Die Einstellung erfolgte, weil ich „Jungstar“ war. Ich hatte weder meine Ausbildung in Tiefenpsychologie noch in Kinderheilkunde abgeschlossen. Es fehlten mir noch einige Monate Ausbildungszeit zur Erlangung des Titels praktischer Arzt. Die wollte ich im  Zivildienst absolvieren. Der Verwaltungsdirektor in der Erstbegegnung: „Ich kann Sie als Gärtner einsetzen!“ Meine Reaktion: „ …“ Keine Verteidigung, keine Abwehr – einfach warten. „Der Herr Primar Egermann wünscht, dass sie auf Station tätig sind. Das ist zwar gegen die Vorschriften, aber ich muss gehorchen.“ Österreichisch.

Die Tätigkeit war anstrengend. Egermann war ein sehr kompetenter und freundlicher Arzt, der allerdings oft in seine Ordination musste, die im Wesentlichen von seiner Frau geführt wurde. Sie bestimmte welche Blutabnahmen gemacht wurden – nach den Ablaufdaten der Reagenzien. Der Oberarzt mochte Patient*innen nicht. Er ging ins Krankenzimmer mit 20 Betten und fragte: „Braucht wer was?“ Und verließ das Zimmer bevor die Patient*innen die Frage gehört, geschweige geantwortet hatten. Herr Oberarzt verließ den Saal grußlos. Die Visite war beendet, wenn die Tür zufiel. Daher lag viel Verantwortung auf den Ärzten in Ausbildung. (Ja, sie haben richtig gelesen – Ärztinnen gab’s nicht.) Mein Kollege war junger Vater und Burgenländer – er kannte die Menschen und Gebräuche. Er warnte mich vor den nationalen Zugehörigkeiten, Kroaten, Deutsche, Ungarn hatten unterschiedliche Hintergründe, Erinnerungen an Verbrechen, die sie aneinander verübt hatten und man sollte  damit vorsichtig umgehen, in diesem ehemals westungarischen Gebiet, im jüngsten österreichischen Bundesland. Herr Assistent war ein braver, guter Bursche. Er half wo er konnte und machte bei den Spielchen gegen mich nicht mit. Ein anderer Kollege spritze sich Fentanyl, wenn er Kurznarkosen machte und etwas übrigblieb.  Er hatte das vom Anästhesieprimar gelernt, der meist betrunken in den Operationssaal kam. Der gynäkologische Operateur und der Anästhesist stritten während der Operation über Politik – manchmal informierten sie einander falsch über den Zustand der Patientin, um Fehlern zu provozieren. Meine Tätigkeit war: Krankengeschichten führen, Aufnahmen und Entlassungen, Blutdruck messen, Blutabnahmen und – vor allem – aufpassen, dass die hohen Herrn nichts übersahen.

So wie im KH Horn in dem ich 10 Jahre früher als Einundzwanzigjähriger gewesen war, kam man auch ins LKH Oberpullendorf zum Sterben. Der Gesundheitszustand der neuaufgenommenen Patient*innen war so wie es Samuel Shem in seinem wunderbaren, Buch: „House of God beschreibt. Die Patient*innen kamen zu spät ins Spital. Ihre Chance wieder gesund zu werden war klein. Beamte und Würdenträger ließen sich rechtzeitig auf Klasse behandeln, manche sogar wegen nichts und wieder nichts. Ich erinnere einen Finanzamtsleiter, der wegen arger Verstopfung kam und lange über schweren Stuhlgang sprach. Als ich Egermann vor der Türe fragte wie man dem Mann helfen könnte, sagte er: „Gar nicht. Die Medizin hat kein Heilmittel gegen ungelebtes Leben.“ 

Ein andermal: Der Pfarrer brauchte für Kunstprojekte viel Geld. Eine Dame lag nach Schlaganfall im Koma. Die Testierfähigkeit der bewusstlosen Patientin wurde vom Stationsarzt festgestellt – ein mitgebrachtes Testament unterschrieben. Schwupps hatte der Pfarrer das Häuschen, das die Geliebte eines lokalen Unternehmers bewohnt hatte. Sie starb in derselben Nacht.

Zu zweit betreuten wir eine Station von 40 Patient*innen. Wir machten Injektionen und Blutabnahmen vom sieben Uhr früh bis ½ 9, dann gab’s Jause, danach Visite, Führung der Krankengeschichten, Entlassungen, Übertrag der Anordnungen in Fieberkurven und Zuweisungen an andere Abteilungen, Mittagessen – danach Pause, Nachmittagsvisite um 15 Uhr. 

In der Mittagspause ging ich zu Fuß in die Stadt – an sich fuhr man mit dem Auto. Mein Auto, ein Peugeot 504, rostete vom ersten Tag an. Ich hatte es nach der Geburt meiner Ältesten aus einer „Autohalde“ billig gekauft. Er war rot, hatte Lenkradschaltung und Starrachse. Ein gefährliches Auto, es startete nicht, wenn es nass war, da die Zünderkabeln nicht dicht waren. Wenn doch schlingerte und schleuderte er auf nasser Fahrbahn. Ich wurde von der Versicherung gekündigt, weil ich so viele Schäden hatte. In O-pullendorf ging ich hügelabwärts und spielte in einem Kaffeehaus Angry Mouse. Man musste Mäuse, die aus Löchern kamen mit dem Hammer aufs Haupt schlagen.

So, jetzt wissen Sie schon fast alles, nicht aber wie furchtbar es dort war. Abgelehnt und einsam, geringes Einkommen, ein Nachtdienstzimmer als Unterkunft, meine Familie in Wien, Lehranalysenbesuch Dienstag und Donnerstag und jeweils danach psychotherapeutische Ordination, danach Kinder ins Bett bringen und nach Oberpullendorf zurückfahren. Dreimal die Woche die Strecke Wien – Oberpullendorf hin- und herfahren von 1.10. 1980 – 31.5. 1981. Im Winter einmal Schneeverwehungen auf der Autobahn um sechs Uhr früh: das Auto hat sich im Kreis gedreht – es ging gut aus. Vielleicht hätte ich den Blumenlieferwagen nicht überholen sollen? Meine Ehe war kompliziert und die Kinder fragten warum ich schon wieder wegmüsste, wenn ich sonntags aufbrach. Deswegen mieteten wir ein Häuschen in Rattersdorf an der Grenze zu Ungarn. Das Haus war feucht, die Betten alt. Meine Mama kaufte einen offenen Kamin für mich am Graben in Wien. Wir schlossen das 20 Zentimeter dicke Rohr an, öffneten die schmiedeisernen Türen des Ofens (und das Fenster) genossen den Blick in die Flammen – und schliefen sofort ein. Kohlenmonoxyd als Droge.

Ich glaube fürs Landarztleben war ich nicht geschaffen. Ein Mann wurde auf der neugegründeten Intensivstation mittels Peritonealdialyse behandelt. Der junge Assistent hatte die Anordnung der Schläuche einem Lehrbuch und der Beschreibung entnommen. Die Schläuche wurden falsch montiert, oder verstopften. Das weiß ich nicht mehr. Der Patient wurde immer dicker, die Flüssigkeit sammelte sich in seinem Bauchraum an, statt zu- und abzufließen. Das war für sein schwaches Herz zu viel. Er starb während, oder an der Behandlung. Man hatte gelernt. Der Assistent wurde Prima in einer österreichischen Kleinstadt, vielleicht hatten seine Bundesheerkontakte geholfen.