Sind psychiatrische Patienten ebenbürtig?

Man wollte immer wieder, dass ich Kinder- und Jugendpsychiater werde. Ich war ambivalent, es war mühsam das zu werden und wenn man es wurde sank das Gehalt und die Anerkennung. Gemäß einer Vereinbarung zwischen den Chefs der Kinderklinik und der Kinderpsychiatrie konnte man den Facharzt Kinder- und Jugendpsychiatrie erst nach Absolvierung entweder des Facharztes für Psychiatrie, oder für Kinderheilkunde absolvieren. Daher dauerte die Ausbildung mindestens 9, meist 12 Jahre. Die Ausbildungen zum praktischen Arzt und zum Facharzt für Kinderheilkunde (auch schon acht Jahre!) erschienen mir völlig ausreichend. Ich wollte kein „jüdischer Arzt, der kein Blut sehen kann“ werden, wie man Psychiater abwertend nannte.

Trotzdem machte ich mehrere Anläufe den Facharzt zu erwerben. Mein Lehranalytiker Walter Spiel bot mir bereits mit 27 Jahren das kinder- und jugendpsychiatrische Primariat im Kinderheim Hohe Warte an. Dazu hätte ich den Zusatzfacharzt haben müssen und an die Klinik arbeiten gehen müssen. Allerdings hatte er mich gegenüber seinen Oberärzten Max Friedrich und Ernst Berger so oft gelobt („Werdet schon sehen, wenn der Ronny kommt. Der hat jüdische Analytikerintelligenz. Da könnt’s ihr beide nicht mit.“), dass sie mich mit Hass erwarteten. Ernstl kannte ich aus der kommunistischen Studentenbewegung, schon damals war ich das blöde Bürgersöhnchen gewesen und nicht aus dem kommunistischen „Adel“, wie er und seine Frau. Spiel verstellte mir absichtlich, oder aus Sadismus gegenüber seinen Ärzten die Möglichkeit bei ihm zu arbeiten. Zum Abschluss der Analyse schenkte ich ihm, nebst einem Teeservice, die Zusage nie an seine Klinik zu kommen.

Der nächste Anlauf erfolgte in Graz 1984 bei Helmut Lechner. Der gefürchtete Vorstand der Nervenklinik in Graz gab sich gerne bäuerlich-schlau und grob. Gerhard Fritsch, Schwiegersohn einer hohen ÖVP Politikerin, hatte er den Zusatzfacharzt quasi geschenkt. Fritsch wurde Primar in Klagenfurt (und verstarb leider bald, das war schade denn er war ein Superkerl und bester Kollege) meldete ich mich bei Lechner an. Der ließ mich zwei Stunden warten. Dann empfing er mich gemeinsam mit einer Dozentin vor einer gotischen Marienstatue: „Sie brauchen gar ned glauben, Herr Kollege, dass da was g‘schenkt kriagn!“ sagte Lechner auf Stoasteirisch. Er stellte Bedingungen, die ich nicht erfüllen konnte ohne meine Tätigkeit an der Kinderklinik auszugeben, was undenkbar war. „Was werden’s jetzt machen?“, fragte er süßlich. „Nichts, Herr Professor, jedenfalls keine Ausbildung bei Ihnen!“ Er war schon mein Feind bevor er mich sah. Durch meine Frechheit wurde es nicht besser. 

Sein Nachfolger – allerdings nur mehr für die Psychiatrie und nicht mehr für die gesamte Nervenheilkunde – H.-G. Zapotoczky  und ich waren aus Wien gut bekannt. Er war spätberufener Individualpsychologe, allerdings ohne tiefenpsychologische Überzeugung. Eigentlich war er ein fader, konservativer Psychiater. Daher begann er seine grazer Professur auch mit einem Symposion zur Elektroschocktherapie. Ich fragte ihn, ob er verrückt geworden sei. E-Schock war aber das Signal, das er setzen wollte, nachdem er von meinem Freund Stix vorwiegend wegen seiner psychodynamischen Orientierung berufen worden war. Seine Kollegen sollten sehen, dass er ein „echter“ Psychiater war und kein psychodynamisch denkendes Weichei. Meine Kritik vergaß er mir nicht. Als ich bei ihm meine Ausbildung machen wollte, legte er mir alle denkbaren Steine in den Weg. Überdies verhielt er sich konträr zu dem Arztbild, das das meine ist. Bei einer Chefvisite in der geschlossenen Abteilung sagte eine Patientin: „Herr Professor, ich muss mit ihnen reden!“ Zapo wandte sich an seinen Assistenten und tuschelte: „No, reden’s halt mit ihr.“ Ich war angeekelt und empört. Nach zwei Monaten Feindseligkeit beendete ich diesen Versuch.

Mein dritter Anlauf fand bei H.-P. Kapfhammer, dem Nachfolger Zapos statt. Ein Jahr Gegenfach Psychiatrie waren angesetzt. Der überaus freundliche und zuvorkommende Bayer nahm mich auf und setzte mich an die Seite seines 1. Oberarztes Prof. Götz Bertha. Vielleicht weil sein Vater Hans einer der wesentlichen Akteure der Euthanasie gewesen war, war er besonders nett zu mir. Ich konnte kommen und gehen wie es meine Obliegenheiten an der Kinderklinik zuließen.

H.-P. Kapfhammer legte großen Wert darauf, dass seine Patienten nicht nur psychiatrisch, sondern auch somatisch gut betreut wurden. Mit diesem Wunsch stieß er aber bei den eingesessenen Ärzt*tinnen auf Granit. Keine*r ging mit ihm. Keine*r führte eine Lumbalpunktion aus, obwohl er anordnete, dass das bei jede*r bewusstlos*e Patient*in nachts  erfolgen muss. Man schickte den/die Patient*in nächsten Tags auf die Neurologie. Als ich in meinem Weihnachtsdienst eine Punktion bei einer bewusstlosen Patientin machte, deutete man mir das als Versuch mich wichtig zu machen. Vielleicht hat’s gestimmt.

Jetzt kommt’s: Nebst allen anderen Untersuchungen wurden bei den stationär aufgenommenen Patient*innen anfangs ein EKG gemacht und zur Befundung an die Innere Klinik geschickt. Ich schaute mir die EKGs die ich machte aus Interesse an. Ich entdeckte einmal eine sehr seltene Reizleitungsstörung, das Wolff-Parkinson-White Syndrom. Ich war sehr stolz, dass ich das gesehen hatte. Meinen Stolz konnte ich mit niemandem teilen, keinen interessierte das. Gespannt wartete ich auf den Befund der Kardiologie. Nach zwei Tagen kam er: „Unauffällig!“ Ich war zerstört. Sollte ich mich geirrt haben? Es war für die Patientin wichtig: Bei Vorliegen der Störung dürfen manche psychiatrische Medikamente nicht verordnet werden. Ich ging bergab in die Innere Klinik: „Von wem werden die EKGs bei Ihnen befundet?“ fragte ich. Ich wurde zu einem jungen Assistenten geführt. „Wie befunden Sie die psychiatrischen EKGs?“ „Gar nicht,“ war die ehrliche Antwort: „die haben alle eh nichts.“ Ich nahm den EKG-Streifen heraus: „Was halten Sie davon?“ Er schaute, schaute, schüttelte den Kopf, nahm das EKG Handbuch aus dem Schrank und sagte was ich erwartet hatte: „Ein WPW Syndrom!“ Er war fassungslos. Verständlicherweise wollte er, dass ich ihn nicht verrate.

Nächsten Tags machte ich mich unbeliebt, weil ich in der psychiatrischen Ärztebesprechung das WPW Syndrom und meine Rolle bei der Entdeckung erwähnte. Das Lob des gutmeinenden Chefs gab mir den Rest. Er unterstützte mich und forderte seine Stammärzt*innen auf jedes EKG zu befunden bevor sie es weiterschickten und jeden kardiologischen Befund zu kontrollieren. Ab da war’s offener Hass. Er wollte mit dem Kardiologiechef sprechen und sich für die Zusammenarbeit bedanken. Ich hatte den Eindruck, dass er erstmals davon erfuhr, dass eine EKG Untersuchung Teil der Aufnahme in seiner Klinik war. Mein Leben zwischen den Stühlen Psyche und Soma war offensichtlich.  Ich wollte Arzt sein, weder auf Psycho noch auf Soma beschränkt. Das widersprach dem allgemeinen Bedürfnis nach Einteilung, Zuständigkeit und Zuordenbarkeit. Ich muss zugeben: Entdecken wäre ja noch gegangen, aber mein Lobesbedürfnis wendete sich gegen mich. Ergebnis: Gelobt und geächtet.