Drogenbabys

Kinder kokain- oder opiumsüchtiger Mütter, die während der Schwangerschaft ins Drogenersatzprogramm aufgenommen worden waren, wurden an der Klinik schlecht behandelt. Die Kinder waren viel zu lange auf Station, bekamen zu lange Opium. Die weitere Betreuung wurde erst nachdem das Kind auf der Welt war, geplant. Das war falsch und erschwerte die Entwicklung einer Beziehung zwischen Mutter und Kind. Ich litt darunter sehr, obwohl es mich an sich nichts anging. Ich war Mitglied der American Association for Child and Adolescent Psychiatry (AACAP) und wusste aus der Lektüre ihres Journals, dass man den Kindern viel besser helfen konnte.

Kamen diese Mütter nachmittags ihre Kinder im 3. Stock der Klinik besuchen, wurden sie äußerst schlecht behandelt. Die Stationsschwester, die ein eisernes Regiment führte, hasste diese Frauen. Sie ließ sie das spüren. Die Kinder wurden beispielsweise gefüttert bevor die Mütter kamen, den Müttern wurden keine Sitzgelegenheiten neben ihren Kindern eingeräumt. Kamen die Mütter mit ihren Müttern, oder anderen Verwandten wurden diese weggeschickt, weil angeblich Erwachsene die Infektionsgefahr für die Kinder erhöhte. Terror angereichert durch alltägliche Bösartigkeiten, mit verletzenden Sätzen, wie: „Sie müssen sich die Hände waschen, bevor Sie ihr Kind angreifen – das werden’s doch wissen!“, oder: „Ihretwegen ist das Kind jetzt krank. Als werdende Mutter sollte man sich doch beherrschen können.“ Alltagsbösartigkeit, wie es vielleicht in der Fernsehserie Kaisermühlen Blues angebracht gewesen war, aber nichts auf einer Babystation verloren hatte.

Ich ging zu meinem Abteilungsleiter für Allgemeinpädiatrie, um ihn um Rat zu fragen. Was sollte ich machen, wie das ändern? Er riet mir ab. Ich sollte mich nicht in die Behandlungsmodalitäten der Neonatologie einmischen. Die wüssten schon was sie machen. Mein Stand in der Klinik sei ohnehin ein schwerer, ich sollte es mir nicht noch schwerer machen. Meine Vorhaltung, dass die Ärzt*innen in Amerika hunderte Male so viel Erfahrung mit Drogenkindern hätten wüssten was mit den Kindern passieren wird bevor sie geboren würden; dass die Ersatzdrogen den Kindern keinesfalls länger als einige Tage gegeben würden, weil sonst das Kind drogensüchtig wird und anderes mehr. Ich könnte doch nicht zusehen, wie Kinder geschadet würde, nur weil ich nicht zuständig sei. Ich ersparte ihm Shoa-Assoziationen, aber er verstand auch so. Nach einigen Tagen stimmte er mir zu, nachdem er die Papers gelesen hatte. Es änderte nichts an seinem Rat. Er selbst wollte sich nicht einmischen, seine Beziehung zu den anderen Abteilungsleitern war schon so schwierig genug, sie akzeptierten ihn nicht als Klinikvorstand und bekämpften ihn wo‘s nur ging.

Seine Reaktion war für mich Ansporn. Ich war durch die Verarbeitung der Geschichte der Juden im 3. Reich, durch meine zionistische Jugend und meine kommunistische Studentenzeit vorbereitet einen Kampf für Rechtlose und Vernachlässigte zu führen – ohne Ansehen meiner Person. Als Student redete ich mir ein, dass Ich bereit wäre dafür zu sterben. In der Studentenbewegung hieß es: „Da ohnehin gestorben werden muss, warum nicht für eine gute Sache?“ Heute, 50 Jahre später bin ich froh, dass ich ein erfülltes Leben hatte und zweifle, ob man sein Leben für eine phantasierte Zukunft geben sollte. Ich zweifle, ob es das Opfer Wert ist, wenn man sich zum Beispiel für die französische Revolution einsetzte, oder für Oktoberrevolution. Sein Leben für eine Zukunft geben, die scheinbar eine bessere sein wird. Manchmal hat das gestimmt, immer endete es in Blutbädern. Angeblich kann sich die Menschheit nur so weiterentwickeln – damals hatte ich noch den Schatten meiner revolutionären Jugend über mir, heute zweifle ich an den Heilsversprechungen – wie es meinem Alter entspricht. 

Ich setzte mich ein. Mein Abteilungsvorstand war damals noch Klinikvorstand und erlaubte mir eine klinische Visite zu dem Thema. Ich nahm Kontakt zu jenem praktischen Arzt auf, der die meisten Drogenersatzpatienten betreute und vor mir einst die Psychosomatik betreute. Weiters lud ich den Landessanitätsdirektor, den Oberarzt für Drogenkranke der Landesnervenklinik Graz, die leitende Sozialarbeiterin des Jugendamts ein und veranstaltete eine „Klinische Visite“ – eine einstündige Veranstaltung, die jeden Donnerstag von 13 – 14 Uhr im Hörsaal der Klinik stattfand. Diese klinische Visite wurde von sehr vielen Kolleg*innen besucht, war für Student*innen im pädiatrischen Praktikum Pflicht. Einladungen wurden stets an alle Kliniken versandt. Der Tag kam. Es waren zirka 160 Personen anwesend, der Hörsaal fast voll.

Wie es mir gelang eines der Kinder und deren Familien vorzustellen, weiß ich nicht mehr. An sich wurde das Kind, das den Anlass zu Kommentaren und Diskussionen gab, immer von einem Turnusarzt, oder Ausbildungsassistenten*tin vorgestellt. Im Programm stand ein Kind, ein Kommentar des behandelnden Oberarztes der Neonatologie, einer vom Drogenarzt – ich machte die Moderation. Widersprüchlicher hätten die zwei Kommentare nicht sein könnten. Der Neonatologe erklärte wie und warum die Therapie so laufen müssten. Der Kollege zeigte an Hand von Literatur, dass man das ganz anders machen muss. 

Kontroversielle Diskussionen sind das Salz der wissenschaftlichen Klinik. Das wussten die Beteiligten auch. Ich erinnere die Wortmeldung meines Freundes, praktischen Arztes und Vorgängers Gustav Mittelbach, der zwar die Klinik respektierte, aber eine respektvolle Behandlung der Familien einforderte. Die Worte des Drogenersatzexperten waren ausschlaggebend. Er erklärte, dass man statt zu heilen, oder zu behandeln die Babys süchtig machen würde. Große Aufregung im Saal. Die anderen Teilnehmer*innen, wie die leitende Sozialarbeiterin (die mich nicht leiden konnte, weil ich die Aufnahme von Kindern aus psychosozialen Dauerkrisen am Wochenende verweigerte – ich wollte keine Außenstelle des Jugendamts werden) beleuchtete die Fragen aus ihrer Sicht und beklagte, dass die Klinik sie zu spät einbeziehen würde. Alles andere habe ich vergessen.

Was ich erinnere ist: ich habe es überlebt und die Kinder blieben nur mehr einige Tage auf Station bevor sie entweder ihren Müttern oder einer Pflegefamilie übergeben wurden. Ein Krankenhausaufenthalt der zu einer anaklitischen Depression bei diesen Kindern, die ohnehin schon im Mutterleib geschädigt worden waren, trat nicht mehr auf. Ich arbeitete in meiner ersten Stelle im Karolinen Kinderspital in Wien neben der Einrichtung in der R. A. Spitz die anaklitische Depression definiert hatte. Er konnte sie eindeutig einem langen Aufenthalt eines Babys in einer Institution, in der die Bezugspersonen ständig wechseln, zuordnen. 

Das ist der Stoff aus dem meine schönen Erinnerungen gemacht werden: mutig in die neue Zeit, Held der sich für die Kinder einsetzt. Kämpfer gegen die Ungerechtigkeit auch und gerade wenn man nicht dafür verantwortlich ist.