Weltkongress für Individualpsychologie, Paris 1979

Jungstar – was wurde daraus? Zufriedenes Alter? Impulse für ein langes Leben? Alles nicht. Es war einfach schön mit Irene durch Paris zu flanieren, die bewundernden Blicke zu spüren, die diese rothaarige Schöne von den alten Juden bekam, die am Weltkongress Individualpsychologie in Paris anwesend waren. Ich stand im Programm, der Jüngste, ohne abgeschlossene Lehranalyse und nahm – frech – meine Freundin mit. Sie war der größte Erfolg.

Ich sehe noch das braune, querformatige A5 Programm vor mir. Es war vor der allgemeinen Verwendung des Internets – vielleicht hatten es die USA im Spionagebereich schon, ich kannte es nicht. Es gab nur dieses Programm, es war gedruckt worden und ich hatte einen Hauptvortrag! Ich war unendlich stolz, geschmeichelt. Walter Spiel als österreichischer Vertreter der Weltgesellschaft für Individualpsychologie hatte mich dazu eingeladen. Diese Gesellschaft war ein kleines Grüppchen, überwiegend Männer, meist Überlebende der Shoa, Flucht, Verfolgung und Errettung waren die Themen. Trotzdem die Veranstaltung in Paris stattfand war Manes Sperber nicht geladen – der einstige „Lieblingssohn“ und Verfasser der besten Biographie Alfred Adlers, des Gründers der Individualpsychologie hatte sich in seiner Begeisterung für den Kommunismus von Adler abgewandt. War das auch 1934 gewesen und schrieben wir das Jahr 1978, die Kluft hatte sich nicht mehr geschlossen, Sperber hielt Individualpsychologie für eine Verirrung und Adler starb unversöhnt 1937. Sperber hatte sich nach Osten orientiert, kam enttäuscht zurück, Adler nach Westen, in die USA und erlebte mit seiner Lehre, die er für Tiefenpsychologie hielt und Rudolf Dreikus für eine pädagogische Schule letzten Endes Schiffbruch. 

Es waren nur Wenige, die die Individualpsychologie für eine tiefenpsychologische Diagnose- und Therapietheorie hielten übrig geblieben. Die Dreikursianer hatten allerdings die Begriffe: „Minderwertigkeit“ „Überkompensation“ und „Machtstreben“ zu Versatzstücken US-amerikanische Pädagogik gemacht.

Paul Romwar ein alter, sensibler, schlanker Gymnasiallehrer. Er hatte als U-Boot in Berlin überlebt. Er sprach mit mir über sein Büchlein: „Wer will schon gern neurotisch sein?“ und über die Möglichkeit der brieflichen Analyse von Patient*innen. Sperber und Rom hatten ein differenziertes Bild von Alfred Adler, dem Gründer der IP. Er war ihnen Vaterfigur gewesen. Manes Sperber hatte die eindrucksvollste Biographie über seinen Lehrer geschrieben, kurz bevor er sich der Sexpol-Bewegung um W. Reich anschloss und als kommunistischer Spion Stalin diente. Alles, um gegen den Faschismus zu kämpfen, alles, um auf der richtigen Seite zu stehen; alles, um den Genozid an seinem Volk zu verhindern und in der ewigen, jüdischen Hoffnung, dass es eine Bewegung geben könnte, die die Vorurteile gegen Juden nicht hat. Sowohl beim Christentum wie beim Kommunismus war man trotzdem bei beiden Bewegungen ein Jude der Gründer war, an der falschen Adresse. Mit der Übernahme der jüdischen Lehre durch Nichtjuden wurden diese Massenbewegungen judenfeindlich.

Diese alten Juden sahen in mir ein kleines Wunder: einen jüdischen Mann, der so wie einst die Vorkriegsjuden selbstbewusst öffentlich sprach, eine nicht-jüdische Freundin hatte und bei Walter Spiel in Lehranalyse war. Walter Spiel strebte die Präsidentschaft des Weltvereins  an und zeigte sich gern mit mir. So hoffte er, würde man ihm den Dienst in der Deutschen Armee verzeihen.

Diese alten Menschen hatten die Individualpsychologie über den Krieg reingehalten, Einflüsse des Nationalsozialismus und des Kommunismus abgewehrt, mehrere interne Abspaltungen nicht mitgemacht. Zum Weltkongress kamen Jungärzt*innen, die so wie ich eine tiefenpsychologische Ausbildung machten und Amerikaner, die Paris sehen wollten die Sehnsuchtsstadt Henry Millers und Anais Nin.

In den Büchern von Miller und Nin liest man von einem Paris in dem junge US-Amerikaner ausgelassen und selbstkritisch mit europäischer Kultur in Kontakt kommen, sie hungrig aufsaugen und mit sexueller Ausgelassenheit ein anderes Lebensgefühl erproben, als in der puritanischen Heimat USA. Das stimmt für „Stille Tage in Clichy“, wie für „Das Delta der Vernus“. In „Salz auf der Haut“ porträtiert Benoite Groult den 1969 stattgefunden wiener Weltkongress für Psychoanalyse, der die Aufbruchsstimmung des Nachkriegswiens zeigt, die sexuelle Libertinage dieser Jahre und den verhaltenen Spott der österreichischen Altnazis, wie Hans Strotzka,, die sich mit den Regeln der „jüdischen“ Erfindung Psychoanalyse so wohl fühlten, wie mit denen der Sturmschar (SS) und sie ebenso entschlossen exekutierten.

Natürlich hatte ich die zitierten Bücher gelesen, jede*r hatte sie am Nachtkästchen stehen. Wilhelm Reich und seine Schüler, Rudi Dutschke – Führer der antiautoritären Bewegung, der deutschen außerparlamentarischen Opposition dazu. Zeitgefühl kann man kaum wiedergeben. Weder wird eine nachfolgende Generation den Einfluss der Pandemie des Jahres 2020 auf Stimmung, Entscheidungen und Alltag nachvollziehen können, noch kann man die Aufbruchsstimmung des Wirtschaftswunders in Kombination mit der öffentlich werdenden Diskussion über Naziverbrechen verstehen, die durch den Zusammenhalt der alten Seilschaften angestachelt wurde und durch Urteile wie den Freispruch des Judenschlächters Franz Muhrer, SS-Chef des Wilnaer Ghettos manchmal in Verzweiflung endeten. Ich war Achtundsechziger gewesen. In Paris war ich Jungarzt mit schöner nebenehelicher Freundin Irene. Sie war eine rotblonde Waldviertlerin, die langgelockten Haare fielen ihr über ihre Schultern. In dem ovalen „Puppengesicht“ strahlte ein unwiderstehliches Lächeln, wenn sie lachte öffneten sich die schmalen Lippen und ich sah eine etwas unruhig Reihe weißer Zähne. Sie lachte viel. Ihre schlanke, weibliche Gestalt war in helle Hosen und die ansehnliche Brust in weiten Blusen, die die Figur mehr betonten als verdeckten. Ihre neugierigen, grünen Augen wollten Paris erobern, ihre Neugier, ihre Lebensgier machten mich einem heißblütigen Begleiter. Nicht ich, sondern sie erregte nicht nur mich, sondern auch das Interesse Paul Roms, des berühmten und vielgelahrten. Sicher – er war interessiert und erstaunt, dass ein junger, wiener Jude eine individualpsychologische Ausbildung machte und sich so weit hatte profilieren können, dass er zum Weltkongress eingeladen wurde. Er hing sich, seine kleine Gehstörung akzentuierend, bei ihr ein – sie reichte ihm ganz Krankenschwester gern ihren Arm und genoss seine Geschichten, war von seinem Atem des Alters angeekelt und lachte mich an, dankbar für diese Kontakte die ihr neu und überraschend waren. Wir freuten uns auf unsere Minuten und Stunden in den Betten über den Dächern von Paris.  

Walter Spiel war entsetzt: Er fühlte sich für mich verantwortlich, hatte mir einen Vortrag gegeben – jetzt brachte ich auch noch die schönste Frau des Kongresses mit. Erst als er zu einem Dinner einlud, das seine Wahl zum Weltpräsident unterstützen sollte, erst als dort alle Männer vor allem neben Irene sein wollten – erst da nahm er wahr, dass ich ihm mit Irene nicht geschadet, sondern genutzt hatte.

So gut meine Karriere in der Individualpsychologie begonnen hatte, wie viele Jungstars konnte ich daraus keine Karriere machen. Zwar gab mir der Schwung aus Paris noch die Möglichkeit das erste Institut für Individualpsychologie in Wien in der Auhofstraße zu gründen, aber ich wurde weder Lehranalytiker, noch nahm ich je eine Funktion in der Weltgesellschaft ein. Walter Spiel hingegen begann als älterer Mann eine Beziehung mit seiner Sekretärin, die die Weltgesellschaft verwaltete und diese räumte das Konto leer. Er wurde mit Schimpf ausgeschlossen, weil man annahm, dass er den Diebstahl hätte bemerken und verhindern müssen.

Entgegen Alfred Adlers Überzeugung, dass Sexualität nicht der lebensentscheidende Trieb sei, meine Geschichte scheint das Gegenteil zu beweisen.