Konsiliararzt, ohne das Fach zu haben

Walter Spiels Bemühungen mich als Arzt zu verpflichten führten unter anderem dazu, dass ich als Kinder- und Jugendneuropsychiater die neugegründete Intensivfürsorge betreute und das Jugendamt 1./8./9. im Amtshaus Währingerstraße in Wien. Ich war 27 Jahre jung, alle die ich zu supervidieren hatte, waren älter und erfahrener. Ich war sehr selbstbewusst und in der Blüte meiner Manneskraft umgeben von zirka 100 Frauen, die mir andächtig zuhörten – das sollte nicht ohne Folgen bleiben.

Frau OAR. Grün bereitete mir einen wunderbaren Empfang. Sie war am Gipfel ihrer Karriere angelangt, eine kleine, resolute Frau, die sich von einer Erzieherin in einem städtischen Kinderheim zu einer der beiden Fachinspektorinnen direkt unter dem Herrn Obersenatsrat hochgearbeitet hatte. Sie kannte ihr Amt, wusste um die Reste des Nationalsozialismus und um viele Gemeinheiten gegen Kinder, aber auch um die vielen Mitarbeiter*innen, die es gut meinten. Ich wurde von ihr in den großen Sitzungssaal des Amtshauses Gonzagagasse geführt in dem 100 Sozialarbeiter*innen, die damals gerade nicht mehr „Fürsorger*innen“ genannt wurden, auf mich warteten. Es waren fast ausschließlich Frauen, die neben ihrer Tätigkeit in Mutterberatungsstellen, Schulen und Heimen einzelne Familien im Sinne des aus England stammenden case-management betreuten und dafür im Monat etwa 100 Schilling bekamen. Ich wurde geprüft: Was kann der kleine, junge Mann? Wie wird er sich schlagen? Frau Grün bat einen vorbereiteten Kollegen eine Situation zu erzählen. Ich war damals bereits drei Jahre bei R. Eckstein in Supervision gewesen, meine Gruppendynamikausbildung war abgeschlossen, bei Ruth Naske hatte ich viele Supervisionsstunden gehabt und ich wusste, dass sowohl Frau Grün als auch mein Lehranalytiker Spiel wollten, dass ich durchkomme. Ich fühlte mich geliebt und gewollt. Wenn es nicht so gewesen wäre, wäre ich vor Angst und berechtigter Scham über meine geringen Kenntnisse im Boden versunken.

Ein „Fall“ wurde vorgetragen – ich wandte Rudis Schmäh an. Ich nahm den ersten Satz des Berichts, vielleicht auch noch den zweiten und entwickelte daraus ein Bild des Kindes, seiner Familie und der Beziehung, die der Berichtende zu denen hatte. Das funktioniert immer. Wenn man sich irrt, dann wird der Berichtende trotzdem Aspekte finden, die ihm wahrscheinlich erscheinen, einfach, weil die Supervision eine hierarchische Kommunikation darstellt und der „Unterlegene“ immer etwas an den Worten des „Überlegenen“ findet. Ich hatte vor allem Augen für Elisabeth, eine sehr auffällig geschminkte, histrionische Frau, die es auf mich abgesehen hatte. Der nahe Erfolg ihrer Bemühungen war abzusehen. Ihre großgeschminkten Augen, ihre Ausstrahlung – es war unwiderstehlich – 40 Jahre später spüre ich den Kitzel noch.

Noch wichtiger als diese Massensitzungen war Frau Grün „ihr“ Kind, die hauptamtliche Einzelfallfürsorge. Diese wurde bei Kindern eingesetzt, die bis dahin in ein städtisches Heim oder in eine Pflegefamilie kamen. Frau Grün hatte in Heimen gearbeitet, sie wusste wie es dort zuging. Sie könnte gewusst haben, dass im Heim Wilhelminenberg Kinder zur sexuellen Ausbeutung vermietet wurden, sie musste die Schläge und Misshandlungen gekannt haben – sie wollte keinesfalls, dass ein Kind ins Heim kam. Anträge auf Heimunterbringung nahm sie an sich und wies diese Fälle fünf hauptamtlichen Intensivbetreuern zu. Mit mir und denen traf sie sich wöchentlich entweder in Floridsdorf in einem Gemeindebau oder am Margarentengürtel in einem ehemaligen Büro der Berufsschule. Wir besprachen wie wir helfen können: ob zu Hause Schläge das Brot ersetzten; ob der oder jener Knabe am Beginn einer kriminellen Karriere stand; ob die Eltern sich scheiden lassen sollten, um die Kinder zu schützen und von was die Familie dann leben würde; ob wir eine neue Wohnung für die Familie hätten und anderes mehr. Wir machten einander Mut für die Arbeit, Mut gegen die Kolleg*innen, die lieber das Kind sicher im Heim gewusst hätten, damit sie sich nicht fürchten mussten „in der Zeitung zu stehen“, weil ein Kind seine Eltern umgebracht hatte oder umgekehrt.

Meine Rolle war vielfältig. Nicht nur, wie bereits beschrieben, Supervision wie ich sie selbst erlebt hatte – die ruhige, strukturierte Art von Ruth Naske, die Zeit, Ort und Ziele herausarbeitete oder die schlaue, jüdische Art Rudi Ecksteins, der den Beziehungsaspekt über alles stellte: „Widerstand kommt vor Inhalt, Inhalt vor Beziehung“. Es waren innere und äußere Widerstände zu überwinden. Unsere kleine Gruppe mit der Oberamtsrätin Grün konnte sich zwar als Elitetruppe fühlen, oder als die Gruppe die keiner mehr mag, die immer etwas anders machte als es üblich war: die die Heime aushungerte, die den ruhigen Schlaf oder den Urlaub der Kolleg*innen störte, die glaubten es besser zu wissen, sogar besser als die erfahrenen Fürsorger*innen, die schon in der Ostmark dabei waren und zu wissen glaubten, dass aus „G’sindl“ nichts rechtes wird.

Da war der Vater eines Kindheitsfreunds, er war Maler und Bildhauer und lebte mit Frau und zwei Buben in einem kleinen Haus. Er war unstet. Seine erste Frau, die Mutter meines Freundes, war die Besitzerin des 1. Wiener Postkartenverlags in der Mariahilferstraße und Schwester des späteren Nobelpreisgewinners Kohn. Beide Buben aus der 3. oder 4. Ehe waren unerzogen, die Mutter traurig, der Vater unterwegs oder angeheitert oder sonst wie ungreifbar. Gemeinsam mit dem Kollegen machte ich einen Hausbesuch. Unaufgeräumt, dreckig war das Häuschen, drei Stockwerke, je 50 Quadratmeter. Die Buben 12 und 14 Jahre alt, waren seit langem sich selbst überlassen. Sie besuchten die Schule, wenn sie Lust darauf hatten, stark und groß wie sie waren hatten sie manchen Kampf bestanden, manchmal auch Schläge einstecken müssen. Die Sozialarbeiterin hatte Änderunen bei den Eltern herbeizuführen versucht; die Situation als Erziehungsnotstand eingeschätzt. Die Erwartung von Polizei und Jugendamt waren: die kommen ohnehin ins Heim, für das Gefängnis sind sie noch zu jung. Frau Grün unterstützte uns. Ich ermutigte den Kollegen die Buben täglich aufzusuchen, mit ihnen das Haus zu reinigen, sie in die Schule zu bringen, sich für ihre Erfolge zu interessieren und die Eltern nicht zu beachten. Es war ein großes Glück. Der Vater kam in eine der wöchentlichen Besprechungen, lobte und beschimpfte, schenkte mir einen geschnitzten Anhänger aus Speckstein, erzählte von den Jahren als er als U-Boot in Wien versteckt war. Verständnis trat an die Stelle behördlicher.  Feindschaft und Angst, die sich aus der Wiedererinnerung an die tödliche Bedrohung durch den Staat speiste. Die verzweifelte Frau, die sich weder um sich selbst noch um ihre Familie kümmern konnte, bekam Unterstützung, die Finanzen wurden geordnet – die Buben mussten ihr Essen nicht mehr stehlen. Es war für alle Beteiligten ein Erfolg, sogar die zuständige Sozialarbeiterin war dann froh, oder traute sich nicht mehr sich zu beschweren. 

Fast zehn Jahre „kämpfte“ ich mit den „Ghostbusters“, wie wir unsere Truppe scherzhaft nannten, gegen alte Gewohnheiten der Sozialarbeit. Gleichzeitig unterrichtete ich an der Sozialakademie alle medizinischen Fächer. Ich muss viele Schutzengeln gehabt haben, denn ich wusste weder von den echten Verbrechen in den Heimen, noch, dass M. Simon Jüdin war, die ihre schützende Hand ebenso über mich hielt wie Frau Grün. Meine Naivität und meine Unbekümmertheit öffnete mir so manche Türe, sogar der Herr Obersenatsrat nahm mich wahr – das muss Walter Spiel organisiert haben. Ich wusste nicht, dass man mich schützte, ich nahm die Welt wie Richard Gere als Lanzelot vom See im Film mit dem heuer verstorbenen Sean Connery. Welch unbeschwerte Zeit der Jugend, welch Naivität und Unverfrorenheit!