Wieso ich nach Graz ging

Übersiedlungen, so sagt mein Freund Peter Sichrovsky, kosten immer ein Jahr. Meine Übersiedlung von Wien nach Graz klingt unbedeutender, im Gegensatz zu seinen. Er ging von Wien nach Berlin, nach New York, Los Angeles, Neu-Dehli, Singapur, Hongkong, Chicago, London und wo sonst noch hin? Ich ging nach Graz. Fast wie bei F. Raimunds Diener Habakuk (Zitat): (Habakuk. Der gnädige Herr ist schon wieder im Gartenzimmer, er hat sich selbst seinen Schreibtisch und seinen Stuhl hinübergetragen und geht mit sieben Ellen langen Schritten auf und ab. Ich versichere Euer Gnaden, ich war zwei Jahr in Paris, aber ein solcher Herr ist mir nicht vorgekommen.       

Aus: https://www.ferdinandraimund.at/stuecke/alpenkoenig/alpenkoenig.pdf): „Ich war zwei Jahre in Paris, aber so etwas ist mir nie vorgekommen!“ – und dann stellt sich am Ende heraus, dass er nur in Stockerau war.

Als ich aus Wien auszog, behielt ich meine Gründerzeitwohnung im 3. Gemeindebezirk. Meinen Mazda 626 belud ich mit meiner Kleinfamilie – Ingeborg und den Kindern –, Bettzeug, zwei bis drei Koffern und zwei jungen Kätzchen, die auf den Duvets spielten. Alles andere beließen wir in meiner Kindheitswohnung, die bis heute von meiner Ex-Ehefrau Ingeborg bewohnt wird. Ein Telefonnummernverzeichnis hatte ich mit, es war mein wichtigster Schatz. Ich glaubte, dass ich von Graz aus meine wiener Kontakte pflegen, weiterhin Freundschaften aufrecht erhalten würde können, dass sich nur wenig ändern würde. Weit gefehlt. Ich rief niemanden an und niemand rief mich an. Ich begann ein neues Leben.

Der Impuls zu gehen, kam nicht von mir. Gernot Sonnek, einer der ersten Schüler Erwin Ringels und Leiter der Suizidpräventionsstelle der Gemeinde Wien in der Spitalgasse war im Begriff sich zu habilitieren. Bei einem Mittagessen während eines individualpsychologischen Seminars im Weißen Rössl am Wolfgangsee teilte er mir mit, dass er die Absicht habe an unser Institut für med. Psychologie der med. Fakultät der Uni Wien zu kommen und dort per sofort meine Position des stv. Leiters einzunehmen. Würde ich mich ihm in den Weg stellen, würde er mich umbringen. So wörtlich. Zu Hause angekommen, erzählte ich das meiner Familie – meine dreijährige Anna, bekam Panik und beschwor mich jeden Morgen nicht in die Arbeit zu gehen, weil ich dort umgebracht werden könnte.

Es kam der Tag. E. Ringel lud zum Essen ein. Ulrich Kropiunigg und ich waren eingeladen. Frau Direktor Dr. Angela Ringel- Ferdinandy, Frau meines Chefs und Leiterin der Sozialakademie St. Pölten, kochte als gebürtige Ungarin Paprikahendl mit Nockerln. Danach gab’s Marillenstrudel. Ringel fragte wie wir zu einer Anstellung Gernots in unserem Institut stünden. Vor mir wusste er es, ich war dagegen. Ulli war diplomatisch. Er hätte darauf keinen Einfluss und würde es nehmen, wie es käme. Ich sagte, dass ich dann das Institut verlassen müsste, unter Gernot könne ich nicht arbeiten. Ringel schwankte. Da sagte Angela – die ehemalig höchste Nonne Österreichs – streng und deutlich, mit einer schlanken 100er Zigarette in der Hand, zu ihrem Mann Erwin Ringel, dass er Sonnek im Wort wäre und basta. Wir aßen das Paprikahendl, den hervorragenden Marillenstrudel und nahmen Abschied. Ich musste das von mir mitaufgebaute Insititut verlassen.

Das war kein Schaden. In Wien war ich vor der Zeit alt geworden. Im Gegensatz zu den Psychologen Ulli, der glücklich eine Etage im Palais am Franziskanerplatz in Wien besiedelt hatte; im Gegensatz zu Oskar Frischenschlager, der aus Bruck/Mur kam, war ich kein Landei. Ich war in Wien groß geworden, hatte hier studiert, eine Familie gegründet, war in der Ordination bei Hans Zimprich auf der Nussdorferstraße erfolgreich, hatte mehr als genug Geld, machte Gruppendynamik im Schloss Herrnstein der Wiener Wirtschaftskammer, kaufte teure Kleidung am Lugeck, trank Tee vom Schönbichler in der Wollzeile, wo ich im Register meine Mischung aus Earl Grey und Assam Tee hinterlegt hatte und war mit 32 Jahren innerlich alt. Ich fühlte mich als gemachter Mann.

Mit meiner Familie und meiner Mutter war ich an einem der nebligen Winterwochenenden ins Hotel Panhans am Semmering gefahren, ein Vergnügen das viele jüdische Familien – vielleicht aus Vorkriegsromantik – mit uns teilten. Man traf sich im Speisesaal, am Parkplatz und beim Rodeln. Das Schwimmbad war groß und geräumig, das Hotel benutzte es gemeinsam mit dem Ort und den Appartmentbesitzern nebenan. Als wir Sonntagnachmittag vor der Abreise, auf die Kinder warteten, saß ich gemütlich im Blazer und grauer Wollhose gekleidet, neben meiner Mutter und grunzte behaglich. Da sagte sich die lebensverändernden Worte zu mir: „Du grunzt!“ Ich musste mich ändern, so konnte es nicht weitergehen. Ich war vor der Zeit fast an mein Ende gekommen. Wachstum, Herausforderung schienen vorbei zu sein, ich war Facharzt geworden, stv. Institutsleiter und Ordinationsmitinhaber. Ich fühlte mich zu klein für das. Ich schrieb ein Lehrbuch für med. Psychologie aus der Sicht eines jungen Mannes, Alexander, den ich im Edenbad bewunderte. Ich flüchtete im Regen in die Stadtwohnung, auf 36 Quadratmeter war mit kleinen Kindern keine Konzentration möglich. Ingeborg rannte mir nach, sie wollte mich zum Bleiben bewegen. Auf einer kleinen Brücke rutsche ich am schlüpfrigen Holz aus, die elektrische Schreibmaschine flog mir aus der Hand, die Plastikabdeckung war verbogen, das Buch gefiel Erwin Ringel nicht, ich verwarf’s buchstäblich, heute würde ich es gern wieder lesen. Ich musste gehen und es wurde Graz. 

In Graz suchte Marguerite Kratky, geb.: Dunitz, einen Chef. Marguerites Kolleg*innen verließen die in der Infektionsabteilung untergebrachte Psychosomatik aus unterschiedlichen Gründen. Marguerite war noch in Ausbildung und führte die psychosomatische Station im 2. Stock eines lange nicht renovierten Jugendstilgebäudes. Man legte ihr alles ein, was niemand haben wollte: aggressive Jugendliche, Bettnässer und psychosoziale Dauerkrisen. Sie nahm alles, die Kinder taten ihr leid. Ihre Kollegin Hilda Hadorn hatte diese Station VI der Infektionsabteilung als Brautgabe von ihrem Mann, dem damaligen Chef der Kinderklinik Beat Hadorn bekommen. Beat ist ein Barockmensch – Sänger, Forscher, Kinderarzt –  warmherzig, sozial engagiert, nie langweilig, mit tausend Ideen, voller Lebensenergie und an Äußerlichkeiten wie Kleidung, Schuhen etc. desinteressiert. 1985 wurde hatte als Chef nach München berufen, Hilda musste ihn begleiten. Der andere „Psychosomatiker“ Gustav Mittelbach, Sohn des ehemals ärztlichen Direktors des Landeskrankenhauses, der Komtur der Ritter vom heiligen Grab zu Jerusalem gewesen war, eröffnete eine sozialmedizinische Praxis mit zwei Kollegen – sein Traum einer neuen Medizin. Nunmehr allein bat Marguerite Prof. Kurz um einen Chef für sie. Dr. Dinah John, IP-Psychotherapeutin und meine Bekannte aus Jugendtagen, die damals aus Graz nach Wien übersiedelte, empfahl mich, ebenso wie Walter Pieringer und seine Leute, die mich von den Individualpsychologischen Wochenendseminaren kannten. Ich hielt einen Vortrag im Hörsaal der Klinik, man griff mich an und ich fühlte mich sofort zu Hause: viel Feind, viel Ehr‘! Es war wie in der Schulzeit: ich war unwillkommen – eine Herausforderung, die ich fast immer schaffte.