Die Schule des Tarocks

 

Neben meiner Kindheits- und Jungerwachsenenwohnung liegt der Arenbergpark im 3. Wiener Gemeindebezirk. Er war einst ein schöner Park, der Garten derer von Arenberg. 1900 wurde er an die Gemeinde Wien verkauft, die ihn für’s Publikum öffnete. 1940 wurden zwei Flaktürme hineingebaut, die einen Teil des Parks einnehmen. Eine Sprengung des massiven Betons würde das Stadtviertel in Schutt und Asche legen.

In diesem Park wurde ich als Kind vor allem vertrieben. Die starken Buben aus Erdberg und rund um die Neulinggasse stießen mich von der Betonrutsche, wenn es mir einmal gelang sie zu besteigen. Das Klettergerüst stand auf Beton, ich war und bin ein schlechter Kletterer. Kam ich rauf hatte ich Angst.

Nur die Meierei in einem Pavillon, der 1785 errichtet wurde, war attraktiv. Dort bekam ich selten die leckere Jause der Fünfzigerjahre: Fru-fru im braunen Gläschen und Schnittlauchbrot. Die Kühle des Sauerrahms mischte sich mit der Süße der Erdbeermarmelade, die am Grund des Gläschens lag und mit einem langen Löffel aufgerührt werden musste. Das führte immer zu Flecken auf der Tischdecke, die die blonde, strenge Besitzerin mit seufzendem Kopfschütteln zur Kenntnis nahm. Dabei bewegte sich ihr Rossschwanz hin und her – ich fürchte mich vor ihr empfand, aber auch Schadenfreude. Zum Fru-fru gab’s das dick mit frischer Butter bestrichene Mischbrot auf das Schnittlauchhalme in unterschiedlicher Länge gestreut worden waren. Das wurde gesalzen serviert und nachgesalzen. So entwickelte sich der Gegensatz zwischen kalt-süß und salzig-warm. Von meinem neuen Kinderfahrrad, das ich mit acht Jahren ausprobierte, stürzte ich am Weg zwischen den Rabatten und dem umgrenzten Raum der Tischchen der Meierei. Ich bekam die Köstlichkeiten zum Trost.

Das waren die Spiele meiner Kindheit im Park. Sonst lag ich lesend in meinem Zimmer und schaute auf den Kastanienbaum im Hinterhof des Nachbarhauses. Viele Jahre ging ich durch den Park nur, wenn ich von der Wohnung zu unserem Damenmodengeschäft „Edith“ im Haus Landstraße 123 (Heute ein Bestattungsinstitut – wie gut, dass meine Mutter das nicht mehr sehen muss – ihr Umbau, nun so verwendet!) ging. Seit meiner Kindheit waren die Wege frisch betoniert worden, der Spielplatz erneuert die Böden unter den Spielgeräten mit Rindenmulch ausgelegt. Das Pissoir, die Bedürfnisanstalt für Männer stank nach Urin und Teer drinnen stand: „Um Ordnung der Kleidung in der Anstalt wird ersucht.“ Heute gibt’s derlei nur mehr im Museum zu bestaunen.

Vor der Matura gab es vier Vorbereitungswochen. Ich war 17 und ging im April 1969 bei Schönwetter in den Park. Damals entdeckte ich das erste Spiel im Park, bei dem ich mitspielen wollte. Dazu kam es aber nie. Alte Männer saßen an Tischen auf hölzernen Bänken, die am Boden festgeschraubt waren. Sie spielten Tarock. Meistens spielten sie Zwanzigerrufen, die einfachere Form des urösterreichischen Spiels. Dabei ruft die Vorhand den Spieler als Partner auf, der die Karte mit Nummer 20 hat. Das ist jedes Mal ein anderer, je nachdem wie die Karten verteilt sind. Neben sich hatte jeder der mir damals uralt erscheinenden Männer (es gab definitiv keine Frau an diesen Tischen) ein kleines Stößchen mit Münzen: 5 10, 20 und 50 Groschenstücke und einige Schillinge. Selten sah ich ein Zweischillingstück, vielleicht war’s auch eine Fünfschillingmünze, um so hohe Beträge wurde nicht gespielt.

Dort lernte ich manchen Trick und Ausspruch. Zuerst die einfachen: „Bagatt ultimo“, wenn der Spieler die Eins als letzte spielen wollte. Oder: „Karelia die Blonde“, wenn Karo oder: „Pikowa!“, wenn Pik gespielt wurde. „Herz hat jeder Mensch!“ war der hoffnungsvolle Ausspruch desjenigen, der den Herzkönig ausspielte und hoffte, dass er nicht von einer Karte abgestochen würde.

Die Männer saßen drei bis vier Stunden im Park. Nach jeder Partie wurden Groschen, selten Schillinge verschoben. Manchmal ging einem das Kleingeld aus, nicht jeder hatte noch ein Fünf-, oder Zehnschillingstück, das er wechseln konnte. So stiegen manche aus, wenn sie ihr Kapital aufgebraucht hatten. Sie gingen rauchend nach Hause, oder wurden Kiebitze. „Kiebitz halt’s Maul!“ wurde dann gesagt, wenn sich der Zuseher einmischte, vor allem bei den „Nachbesprechungen“, den unvermeidlichen Manöverkritiken, Dialogen nach jedem Spiel. 

Das Schöne am Tarock ist, dass jeder mit jedem Mitspieler unzufrieden sein kann. Denn der Ärger oder sogar Zorn kann nicht lange halten. Oft ist der Mitspieler der einen Partie, der Gegner in der darauffolgenden. Hat man sich über eine blöde Spielweise geärgert, freut man sich kurz darauf, dass Derselbe blöd ist. Die Spieler waren bescheiden. Kriegsheimkehrer, Mindestpensionisten, die Großväter der wilden Buben, die mich zehn Jahre zuvor von der Rutsche gestoßen hatten. Die alten Männer mit ihren immer gleichen Aussprüchen („Der Zwanziger läßt bitten““ „Den Gstiß wird wohl keiner stechen!“ und: „Die Herz steht!“ – mit einem dreckigen Lächeln, denn was stand ihnen sonst noch?) waren mir angenehm und scheinbar ich ihnen auch. Wenn ich als Kiebitz das Maul hielt durfte ich zusehen. Bis zum 21. Jahr, dem Ende des Vorklinikums, verbrachte ich meine Lernpausen in der warmen Jahreszeit bei ihnen im Park. Lernte kennen, dass Erinnerungen nicht besprochen wurden. Weder Kriegserinnerungen, noch Klagen über Gefangenschaft oder körperliche Beschwerden. Ich war der Doktor, weil mich einer der Herrn einmal gefragt hatte was ich studierte. Ab der Antwort: Medizin, war ich der Doktor. „Der Doktor kummt, da müass ma aufpassn!“, hieß es. Ich grüßte und fragte nie, ob ich mitspielen dürfte.

Anmerkung:

Tarock ist ein österreichisches Kartenspiel. Es ist sogar urösterreichisch, denn es gibt zwei Welten in den Karten. Da sind die 22 Tarockkarten mit römischen Nummern, die das Heilige römische Reich deutscher Nation symbolisieren. Demgegenüber gibt’s 42 Farbkarten: Je acht in Herz, Pik, Kreuz und Karo, die französisch aussehen, so wie der österreichische Adel bis 1918 untereinander ausschließlich französisch sprach. Alle Widersprüche der Monarchie sind in diesem Spiel enthalten.