Sonntag, 9. Februar 2020 - Seetag 3 zwischen Valparaiso und der Osterinsel

Leicht ist‘s am Schiff nicht. Die Osterinseln werfen Schatten voraus. Auf meinem Laptop sehe ich einen Kalendereintrag, Bookings.com schickt mir eine Erinnerung, die Schiffsmannschaft verteilt zweiseitige Anweisungen mit Bild der Landestelle vor jede Kabine. Wie auch immer: mal sehen, ob die Wellen und Dünung nicht zu stark sind, um an Land zu kommen; mal sehen, wann wir an Land kommen; vor allem aber, dass die Stimmung gut ist. Moai habe ich schon gesehen, mir geht’s um das Erleben und nicht die Fotos, oder das Sehen.

In dieser Woche erinnern sich Juden an die Errettung am Schilfmeer. Unser „Kantor“ Salomon hat den entsprechenden Psalm am Erev Shabbat gesungen und – da Phillipa mich zum Gabai ernannt hat – ersuchte ich M. Gedanken hinzuzusteuern. Salomon erzählt zwar jede Woche eine lehrreiche Geschichte, aber er nimmt keinen Bezug auf die Thora. Diesmal war er, der der Bestgekleidetste von uns ist, mit einem weichen blauen Ensemble bekleidet: Fischerleibchen langarm mit weicher Hose. Hannes, der Zweitbeste war vorher Friseur, hat langes, weißes Haar, das er mit einem Strohhut aus Ecuador bedeckt. Gestern lernte ich seine Frau kennen, indem ich sie fragte, ob sie genesen sei. Hannes hatte sie wegen Fieber entschuldigt. Da sie mich nicht kannte, kam die Frage für sie überraschend. Hannes aus Lothringen stellte mich daraufhin seiner aparten, schlanken Frau, deren Figur durch ein langes, schwarzes Etuikleid unterstrichen wurde, vor. Ihr Dekolletee war mit einer silbernen Passe eingerahmt, die wunderbar zu dem Platindiamantcollier passte, das sie um ihren schlanken Hals trug. Ein Audrey Hepburn Typ, herrliche Figur, im Gesicht sah man die verflossenen Jahre.

In der Früh habe ich im Halbschlaf M.s Rede „verbessert“: Sie hatte gemeint, dass man angesichts der Lage: vorne das Meer und hinter einem die überlegene Streitmacht der Ägypter, nur auf Gott vertrauen könne. Dabei hatte sie die Arme nach oben erhoben. Das war überraschend, denn M. glaubt nicht an Gott. Ich hätte an ihrer Stelle meinen Unglauben bekannt. Sie hätte über Ereignisse sprechen können, wo ER nicht eingegriffen hat: Der Sieg Titus 70 nach unserer Zeitrechnung. Vertreibung und Inquisition in Spanien und aus  habsburgischen Erblanden ab 1492. Judenverfolgungen in Polen und Russland seit der Christianisierung. Die Shoa. In meiner Rede Marguerites kam der Aufstand im Warschauer Ghetto vor. Die Geschichte von Mordechaj Anieliewicz, den Leon Uris in seiner romanhaften Erzählung über den Aufstand: Mila 18, als Andrej Androfski zum Helden macht, war die Geschichte meiner Jugend. Ich konnte das Buch fast auswendig. Zwar war ich weder Offizier der polnischen Armee, noch führte ich einen Aufstand gegen eine überlegene Macht. Anielewicz zeigte mir, dass man sein Schicksal in die Hand nehmen muss. ER hilft, wenn wir selbst etwas machen. So wird es in der Thora vom Schilfmeer erzählt. Nicht Gott selbst war es, der das Meer teilte. Er wies Moses an seinen Stab zu heben – dann teilte sich das Meer. Während ich das schreibe sitze ich auf dem kleinen Balkon der Kabine 8258. Ich sehe vor mir die großen, langen Wellen des Pazifiks und unendlich erscheinende Weite. Kaum vorstellbar, dass sich selbst ein kleines Meer durch das Heben eines Stabs spalten sollte, um das Volk der Juden zu retten. Leicht, allzu leicht vergisst man die Weisheit der Thora. Hätte nämlich Gott selbst das Meer gespalten, so wie er die Erstgeborenen der Ägypter mit eigener Hand schlug, so hätten wir Menschen keinen Anteil daran. Wir verstünden nicht, dass unsere Befreiung immer auch unser Werk sein muss.

Peter Sichrovsky hat in NEWS den US-amerikanischen Friedensplan für den nahen Osten kommentiert. Er vergleicht ihn mit dem Wiener Kongress 1815 und den Anordnungen der Alliierten nach dem 1. und 2. Weltkrieg. Festschreibung des Faktischen, wie es zum Beispiel bei Tirol und mit dem Verlust Südtirols passierte, wo der Raub des Landes nach der Erklärung des Waffenstillstands legitimiert wurde. So soll es jetzt auch in Israel mit den sog. Gebieten sein und mit der Ermöglichung demokratischer Strukturen bei den Nachbarn. Sicher, weder die Siedler, die von einem Großisrael mit Judäa und Samaria träumen, noch die Terrorregime können davon begeistert sein. Sicher, im Plan ist das Land der nicht-israelischen Araber unzusammenhängend und die Transportwege lang. Israel hat aber kürzlich eine Expresseisenbahn von Jerusalem zum internationalen Flughafen gebaut, die Modell werden könnte. Die US-amerikanische Lösung wäre auf Grundlage der gegenseitigen Anerkennung denkbar. Die Administration Trump hat durch ihre Diplomatie in den arabischen Ländern und die Isolierung des Irans Vorarbeiten für den Plan gemacht. Wie dem auch sei: die Existenz des Plans bestätigt die Thora: Moses musste die Hand erheben: erheben, um unsere Probleme mit unseren Mitteln zu lösen und unsere Affären selbst zu besorgen.

Als ich gestern Abend unseren Mitreisenden über Dinge, wie den Iron Dome Auskunft geben sollte – so gut ich konnte – sah ich, dass man mir wenig Antworten gab. Die Finanzierung des militärischen Sektors durch Erfindungen und Verkauf derselben blieb ebenso unkommentiert, wie klar wurde, dass die Schweizer die Armee unhinterfragt akzeptieren. Dies ist anders als in Österreich, das pseudopazifistisch lebt und den Schutz der US-Amerikaner, oder der EU genießt.

Das Geschichte des Schilfmeers ist ein Anlass, um über den menschlichen Anteil bei der Errettung nachzudenken und kann uns helfen uns unserer Stärken zu erinnern.

Der restliche Tag ging wie im Flug vorbei: Kanaster spielen, einen Happen Nudeln mit Schwertfisch, Schlagoberstörtchen mit Erdbeergeschmack, Siesta. Hans Jonas erspare ich für heute. Ich halte ihm zu Gute, dass er in mir einen Film zur „Verantwortung“ auslöste. In Kopfkino hat es die Verantwortung Sinowjews, eines der angeklagten Juden in den stalinschen Schauprozesse, gespielt. Er sagte 1934, sichtlich am Ende seiner Kräfte, dass er um einen schnellen Tod bäte. Denn wenn auch nicht absichtlich, so habe er doch das große Ganze außer Augen verloren, was bei ihm der Mitglied des ZK der KPdSU war, noch schwerer wöge, als bei jedem anderen. Er danke Genossen Stalin, der es ihm in den 18 Monaten der Haft ermöglicht habe, einzusehen, dass er seine Verantwortung, trotz bestem Bemühen nicht wahrgenommen habe. Denn er habe sich auf sein Ressort konzentriert, auf das Kultur- und Erziehungswesen und habe dabei das Ziel der Erschaffung des neuen, kommunistischen Menschen außer Acht gelassen. Dieses Verbrechen habe er nun eingesehen und bitte um eine Bestrafung, die den Bürgern als Warnung dienen solle. Der Gerichtshof der UdSSR hat dem Wunsch des Angeklagten entsprochen. Das war Reaktion auf Hans Jonas‘ „Verantwortung“ gemischt mit den in mir gespeicherten Erinnerungen von Stalins Tochter an die Einberufung Stalins in ihre Schule, um ihre Traurigkeit und Isolierung zu besprechen unterlegt mit Arthur Koestlers, Manes Sperbers und A. Huxleys Romanen.

Das Schiff, so sagt meine kluge Frau, ist die ideale Therapie, um seine Unnötigkeit zu begreifen. Hier seien viele, die im „echten Leben“ sehr bedeutend waren und spielen nur mehr. Mein Idol Ennio hatte einen Baustoffhandlung erfand und setzte geschlossene Kamine in norditalienische Wohnzimmer, wobei er sich mehrere Finger verletzte. Heute ist er gutgekleideter Tänzer springt, tanzt und umarmt.