Überraschende Diagnosen: Theo

Diagnostik besteht aus dreierlei: zuhören (können), möglichst viel Medizin auswendig gelernt haben (und manchmal, so das möglich ist, auch verstanden haben) und passenden, oder absurden Einfällen. Vor allem ist es wichtig Falsches auszuschließen, und nichts zu glauben, was vorher diagnostiziert wurde. Dies natürlich nur in den Fällen, wo das Bisherige nichts gebracht hat, beziehungsweise keine Diagnose erstellt wurde. Dabei darf man eins nicht außer Augen lassen: Zuerst kommt immer die Geschichte des Patienten, dann der diagnostische Einfall, der am besten auch noch bestätigt werden kann und zuletzt die Therapie. Dass das manchmal anders gehandhabt wird, ist ebenso bedauerlich, wie falsch.

Fangen wir mit einer witzigen Geschichte an. Ein Ärzteleben ist voll solcher Geschichten, zumeist beziehen sie sich auf das eigene Fachgebiet, oder zumindest auf die Spezies auf die man sich spezialisiert hat. Zugegeben: es gibt zwischen Säugetieren Unterschiede. Ein. Delphin hat seine Organe an anderen Stellen wie ein Mensch und seine Lebensumgebung ist der des Menschen unterschiedlich. Die „Maschine“ – sogar inklusive der Emotionen – funktioniert aber im Wesentlichen gleich. 

Jetzt gibt’s einen kleinen Einschub aus der Sicht eines Lehrenden, der 35 Jahre lang Jungärzt*innen ausgebildet hat: Man kann es fast dritteln. Das erste Drittel hat die Medizin verstanden und kann sozusagen in der Maschine spazieren fahren. Denen ist klar, dass das Eine das andere beeinflusst und sie würden – schon, weil sie es besser wissen und die gegenseitige Beeinflussung kennen – einem Leberkranken kein Schmerzmedikament geben, das die Leber belastet. Das zweite Drittel betrifft die Braven: sie haben gut gelernt, wissen viel, lesen nach und merken sich Befunde. Sie werden nie in der Maschine spazieren fahren, sie werden nie das Ganze vor sich sehen, werden bleiben wie ein Mensch, der eine Sprache lernt Texte buchstabiert und nicht sinnerfassend liest. Aber er/sie liest und weiß und merkt es sich. Diese Kolleg*iinen sind hilfreich und gut, angenehme Mitarbeiter*innen, aber sie schauen nicht durch den Patienten hindurch, bewegen sich quasi nicht in ihm/ihr. Dann kommt das letzte Drittel: sie haben Prüfungen absolviert, oft interessiert Medizin sie nicht wirklich, Zusammenhänge bleiben ihnen verschlossen. Sie werden dann jene sein, die zum Beispiel sagen: „Aus meiner Erfahrung“, was bedeutet, dass sie nicht nachlesen. Das sollte man wissen, wenn man über Diagnosen und Therapien von Kolleg*innen nachdenkt. Nur die erste Gruppe fragt genau und lässt sich mit dem „Einordnen“ der Symptome Zeit. Sie haben nichts zu verlieren, sie fühlen sich auf sicherem Boden. Die beiden anderen Gruppen hören kaum zu, beobachten nicht, weil sie fürchten vor eine Situation gestellt zu werden, auf die sie keine Antwort haben, oder sich zu blamieren.

Also, wenn wir das gesagt und Sie es vielleicht geschluckt haben, kommt nun Renates Hund.

Meine Nachbarin Renate hatte einen Hund, den sie aus dem Tierheim holte. Ein nettes, anstelliges Tier mit einem wolligen braunen Fell, der immer bellte, wenn ich bei ihr vorbei ging. Wenn ich ihren Grund betrat nahm er das hin und legte sich nach einem Begrüßungswedeln wieder auf seine kleine Matte im Wohnzimmer. Dieser Hund erkrankte. Er fiel manchmal plötzlich um.

Renate, der für ihr Tier nichts zu teuer war, besuchte den Tierarzt. Eine Spritze neben der Wirbelsäule sollte die Schmerzen, die der Tierarzt für die Ursache der Veränderung Theos hielt, beheben. Sie war nicht billig, Theo ließ das Einspritzen über sich ergehen, aber es half nichts. Ein anderer Tierarzt wurde konsultiert. Er nahm Migräne als Diagnose an und gab Schmerzmitteln. Unterstützt wurde seine Arbeitsdiagnose dadurch, dass Theo im Zusammenhang mit den Stürzen erbrach. Allerdings half die Therapie nichts, Theo wurde langsamer, träge und müde. Ein anderer Tierarzt nahm als Diagnose Epilepsie an und behandelte diese mit den entsprechenden Medikamenten. Theo wurde noch langsamer, das Tier, das 30 Kilogramm wog, musste von Renate für sein Geschäft in den Wald getragen werden. Ich mag zwar Hunde nicht besonders, aber Renate rührte mich, wie sie mit ihrem Hund auf Händen vorbei ging. Also erhob ich die Vorgeschichte: Renate berichtete, dass der Hund immer schwerer würde. Sie führte das auf seinen Bewegungsmangel zurück. Auf meine Frage wo der Hund seine Zusammenbrüche hätte, sagte sie, dass das auf der Terrasse, oder im Wohnzimmer gewesen sei, immer nachdem sie von der Stadt oder vom Wald gekommen wären. Ich untersuchte den Hund. Das ist das Wichtigste. Man muss allerdings unvoreingenommen untersuchen. Untersuchen kann man nur mit Forscherhänden: alles, was man spürt, beobachtet, fühlt darf sein, auch wenn es einem nicht in den Kram passt. Da ist es am besten man untersucht ohne diagnostische Annahme, soweit man das unterdrücken kann. 

Theo hatte einen Hängebauch. Wenn ich diesen lapprigen Hängebauch von der Seite anstupste, dann schwabbelte der Bauch auf die andere Seite und wieder zurück. Ich schwabbelte ein paar Mal: es fühle sich wie ein wassergefüllter Sack an. Ich legte mit Renates Hilfe Theo auf den Rücken und suchte sein Herz. Ich hatte noch nie ein Hundeherz abgehört, aber das was ich hörte war eindeutig: es war eine holosystolisches Geräusch, das Herz klang wie eine Windpfeife. Die Herztöne, die man hören soll, waren von diesem Geräusch überdeckt. Damit war klar, dass Theo, dessen Alter auf Grund seiner Herkunft unbekannt war, an Herzschwäche, Herzerweiterung und Herzversagen litt. Warum dann die Anfälle, die als Rückenschmerzen, Migräne und Epilepsie gedeutet worden waren? 

Nach der Untersuchung konnte das leicht beantwortet werden: Wenn das Herz immer größer wird, weil es schwach und schwächer wird, dann funktioniert die Reizleitung nicht mehr. Man spricht von Gefügedilatation – das Herz wird so groß, dass die elektrische Überleitung nicht mehr funktioniert. Ist es soweit wird der Schlag der Kammer selbstständig und manchmal schlägt die Kammer und die Vorkammer gleichzeitig, manchmal sind auch die Klappen, die die beiden strömungstechnisch voneinander trennen nicht mehr dicht und es kommt zu Adam-Stokes Anfällen, die letztlich zu einem Zusammenbruch führen.

Alles passte nun zusammen: Alter des Tiers, der Zeitpunkt des Ereignisses nach Anstrengung, die Müdigkeit und Schwäche, das Wasser im Bauchraum.

Ich ersuchte Renate in der tierärztlichen Hochschule in die Kardiologie zu gehen und zu sagen: „Ich habe einen komischen Nachbar, Kinderarzt. Der sagt, dass Theo Adam-Stokessche Anfälle hat und einen Schrittmacher braucht!“ Ich warnte sie. Man würde sie auslachen.

Genauso geschah’s: Man lachte. Theo bekam als erster österreichischer Hund einen Schrittmacher, den man einer menschlichen Leiche ausgebaut hatte und wurde zum Titelbild der weitverbreitetsten Tageszeitung: Die Krone. Ich kam nicht vor, er ist trotzdem mein prominentester Patient geblieben.