Enden - beenden - rausgeworfen werden

Es ist der 26.12.2020. Heuer muss ich mit der Biographie aufhören, das hat mehrere Gründe: zum einen ist das Schreiben einer Biografie wie eine Selbstanalyse und hat dieselben Gefahren. Man verliebt sich in dem Fall nicht in die eigene Stimme, sondern beginnt sich wichtig zu nehmen. Noch mehr als sonst wird man zum Zentrum der eigenen Aufmerksamkeit. Zum anderen ist es schön immer wieder Mal was Neues zu probieren. Steckenbleiben ist Betrug am Leben. Das Leben will sich fort und fort zeugen, will erobern, gestalten und nicht träge am Ort verweilen – so wie es in Hermann Hesses Gedicht heißt: „Wohlan denn Herz, nimm Abschied und gesunde!“

Wer kennt den üblen Geschmack des trockenen Mundes nicht, wenn man vor einem Tribunal steht, Rede und Antwort glaubt geben zu müssen. Sich zu verantworten, da die Richter ihr Urteil meist schon gefällt haben, man längst verloren ist und die Schuld erwiesen scheint. Meist haben die anderen Recht: man hat gegen bekannte oder inhärente Regeln verstoßen. Man erinnert sich genau an die Regelverstöße, an die Hoffnung, dass es nicht bekannt werden würde und nun, da man vor seinen Richtern steht, erlebt man Demütigung, Angst, Verzweiflung und trotzige Auflehnung. Man ist erwischt worden und weiß, dass jedes Urteil und sei es das der Ausstoßung, gerecht sein wird. Anders als bei Generationen vor mir, war’s immer mit dem Leben vereinbar, wenn es sich auch nicht so anfühlte.

Da war mein Sturz als Jugendlicher 1967 als Rosh Ken („Haupt des Wiener Klublokals“) im Hashomer Hatzair, der Jugendbewegung einer linkssozialistischen jüdischen Partei namens Mapam. Dort war in – der Tradition sozialistischer Jugendbewegungen vor dem 2. Weltkrieg – Schminken und Sex verboten. In Reinheit sollte den Idealen des Zionismus und der Kibbuzbewegung gefolgt werden, der junge Wächter sollte sich ganz dem Aufbau des Landes Israel widmen, nur der Gemeinschaft verpflichtet. Als Rosh Ken hatte ich die Schlüssel zur dreizimmerigen Substandardwohnung in der Storchengasse 21, Wien 15. Ich nutzte das aus und machte mit meiner Freundin Gabi auf dem Schreibtisch im Büro des Schaliach (Gesandter aus Israel) Liebe, manchmal auch in anderen Zimmern. Ich glaube nicht, dass das bekannt wurde, aber meine Beziehung zu Gabi war bekannt und trotzdem sie mich erobert hatte, war ich der Schuldige. Ich bin Jude, Gabi nach den halachischen Gesetzen nicht (ihr Vater war in Wien versteckter Jude) und obwohl sie sicher die entschiedenere Zionistin war, war eben ich Rosh Ken und als solcher zu bestrafen. Wobei Strafe nicht anging – ich hatte gegen eine Sexualmoral verstoßen, die eigentlich ein Import aus christlichen, vielleicht deutschtümelnden Jugendbewegungen wie den Wandervögeln waren. Egal, ich war schuldig, keine Frage. Damals mit 17 verteidigte ich mich noch. Es wurde mir auch leicht gemacht: man warf mir Hölzl‘n hin, die ich nur hätte aufnehmen müssen: etwa, dass ich entschieden sei nach der Matura in Israel in einen Kibbuz einzutreten – das hätte mein Verhalten als frühreif, aber eines Chaluzniks (Pinonier)  für würdig erklärt. Ich hätte nur bereuen müssen, oder einen Verlust meiner „Würde“ und Schlüsselgewalt hinnehmen sollen – alles zu große Opfer. Ich quittierte, verließ den Verein dem ich seit meinem 9. Lebensjahr angehört hatte und in dem ich auch Knotenmeister und Theaterregisseur gewesen war. 

Die Suche nach der „Wahrheit“ dem richtigen gesellschaftlichen Engagement führte mich ins Café Savoy in der Himmelpfortgasse. Von sieben Uhr abends bis zwei Uhr früh traf sich dort die Neue Freie Linke (NFL), die in Solidarität mit den Befreiungsbewegungen gegen Kolonialismus und vor allem gegen den Krieg in Südostasien und gegen US-Amerika  ihre Bestimmung gefunden hatte. Neben literarischen Größen wie G. Schürer, Robert Schindel und Joe Berger und dem Jazzer Uzzi Förster saß ich jede Nacht in dem Kaffeehaus mit anderen „linken“ Mittelschülern, oft Kinder von KPÖ-Funktionär*innen. Ich wurde durch Zufall Leiter der Strategieabteilung im Kampf gegen die Geheimpolizei Shah Reza Pachlevis, der Savak. Der französische Untergrundkämpfer Remi wäre aus Österreich ausgewiesen worden, hätte er sich als Asylant politisch betätigt und so wurde dem Neunzehnjährigen die Aufgabe übertragen. Wie alle damaligen Kämpfe führte unser Engagement – egal ob gegen Nixon und Kissinger, gegen den Shah oder der Kampf zur Befreiung der portugisischen Kolonien im südlichen Afrika zur Verschlechterung der Lebensbedingungen der dort wohnenden und zu furchtbaren Regimen, als es die waren für deren Sturz wir und einsetzten. Ich flog raus, weil ich Sätze, wie: „Die Revolution frisst ihre Kinder“ oder "My-Lai" zeigt, dass Amerika seine Verfehlungen einsieht“ sagte. Vor allem aber, weil ich die zunehmende Entstehung von Parteien nicht ertrug. Glaube ich heute. Kann so nicht stimmen: Ich wurde Kandidat der Marxistisch-Leninistischen Studentenorganisation (MLSund als solcher Gründungsmitglied der Zelle Medizin. Diese sollte sich dem revolutionären Kampf verschreiben, begeistert lasen wir die Erinnerungen der Basisärzte in China, die den „Langen Marsch“ begleitet hatten, waren Anhänger der permanenten Revolution und ich hielt ein Abonnement der Peking-Rundschau. Viermal wurde mir die Aufnahme als Mitglied verweigert, dreimal wurde ich durch das Zentralkomitee aus der MLS ausgeschlossen. Darüber gibt’s einen Blog, unklar bleibt mir, wieso ich diesen Verein damals nicht verlassen habe. Mein mir aufgetragene Verrat an den Mitstreitern beim ÖH-Wahlkampf 1971, wo ich – nach meinem Wahlsieg die Kollegen der anderen linken Fraktionen aus der Wahlgemeinschaft ausschloss und nur linientreue MLSler mit Ämtern bedachte, macht mich heute noch schamrot. So habe ich Sartres: „Mit schmutzigen Händen“

 selbst erlebt – auch was. Die Verhandlungen über meine Sünden: Unglauben (ich glaubte nicht, dass die Revolution in Österreich sofort Erfolg haben würde; ich glaubte nicht, dass der Wiener Bürgermeister die öffentlichen Verkehrsmittel auf gratis umstellen würde; ich glaubte nicht, dass das Vereinsorgan: Klassenkampf die Wünsche der Arbeiterklasse ausdrückte und schon gar nicht, dass es ein gutes Agitationsmedium sei), bürgerliche Lebensführung und aktives Studieren, führten letztlich zum völligen Ausschluss. Die Tribunale von Eva Ribarits und anderen waren in der Tradition lebenszerstörender Gerichtsverhandlungen. Die wöchentlichen Treffen zum Studium der Klassiker in einem Souterrainlokal im 8. Bezirk hatten die Atmosphäre frühchristlicher Treffen in Katakomben bei denen die Interpretation der Texte Lenins, Stalins und Maos religiösen Texten gleichgestellt wurden. Kritische Fragen waren verpönt und wurden nach oben gemeldet. 50 Jahre später sind Zusammentreffen mit den Mitstreitern von damals peinlich. Man erkennt sich und ist beschämt, erinnert sich ungern, vor allem, wenn man mich trifft. Ich bin und bleibe ein Abtrünniger, auch wenn andere inzwischen bürgerliche Karrieren gemacht haben, wie meine Co-Leiterin E. Brainin (die angesehene Psychoanalytikerin mit derselben Glaubensintensität an Psychoanalyse wurde und sich in feinsten Kreisen bewegt und immer auf der richtigen Seite stand und steht und nie auf der falschen, so wie ich, war), oder Claudia (die in der Rudolfsstifung Univ.-Professorin wurde), oder Georg Goldenberg, der Ordinarius für Neurologie in München wurde.

Ausschluss – Ende – Verstoß gegen die Gesetze der Gemeinschaft. Jedes Mal, wenn sich alle in eine Richtung zu drehen hatten, musste ich die Lächerlichkeit des Konstrukts kommunizieren: die falschen Versprechungen des Kommunismus oder die Tatsache, dass nur Wenige nach Israel übersiedeln würden, um nach den städtischen Freuden Wiens in der Wüste eine landwirtschaftliche Siedlung aufzubauen, in der ihnen nichts gehören würde und in der selbst ihre Kinder in Gemeinschaftseinrichtungen leben würden müssen.

Aber auch dieses Kapitel braucht ein Ende:

Bis 1989 durfte ich Nachtdienste an der Infektionsabteilung in Graz machen. Diese Dienste waren sehr begehrt, sie waren wir in einem geschützten Rahmen. Die meisten Kinder kamen voruntersucht aus der Hauptambulanz der Klinik und mussten leidglich kurz untersucht werden. Natürlich war das problematisch und es war die Aufgabe des diensthabenden Oberarztes Schwerkranke zu entdecken. Die gab’s aber jedes Jahr nur einmal, was es noch gefährlicher machte. Ich wurde auch hier sündig: ich lag stundenlag am Dach in der prallen Sonne, ich bereite meine wissenschaftlichen Arbeiten im Haupthaus vor (nur mit einem Piepser ausgestattet) und verstieß gegen die Regel der ununterbrochenen Anwesenheit, weswegen das teure Dienstradel aufrechterhalten wurde). Zu guter Letzt stellte ich das „Abschreiben“ der Krankengeschichten an Hand eines Manuals, das über 40 Jahre alt war in Frage. Als Oberarzt sollte man abends im Sekretariat Krankengeschichten kontrollieren und ihnen eine Nummer aus dem Manual geben. Das Manual enthielt 100 Nummern von Krankheiten von denen viele nie mehr vorkamen, wie Diphterie, oder tuberkulöse Meningitis. Daher reichte die Kenntnis von 4 – 5 Nummern aus, mir erschien’s lächerlich und ich sagte das. Als ein Kollege begann Daten und Texte anderer Ärzt*innen zu stehlen, um Karriere zu machen, bezichtigte er mich des Diebstahls. Das Tribunal war diesmal kurz: ich hatte gelernt, dass Verteidigung sinnlos ist. Als der Vorstand der Klinik, Univ.-Prof. Dr. R. Kurz mit einem braunen Kuvert auf mich zukam in dem die Regeln des korrekten Nachtdiensts vom Leiter der Infektionsabteilung Dr. Dieter Spork für mich in 10 Punkte gefasst waren, übernahm ich dieses Kuvert nicht. Ich quittierte. Vergebens: an der Klinik wurde ein Komitee bestehend aus Stein, Ring und ich-weiß-nicht wem zusammengestellt vor denen ich zu den Vorwürfen Stellung nehmen musste und die von der Voraussetzung ausgingen, dass ich für den Nachtdienst an der Klinik unterqualifiziert war. Vielleicht hatten sie Recht. Jedenfalls wurde ich einem Anfänger gleichgestellt, wurde zum Hauptdienst eingeteilt – eine furchtbare Erniedrigung. Respekt erwarb ich mir durch meine Fröhlichkeit mit der ich an der „vordersten Front“ pro Dienst bis zu 200 Kinder versorgte. Meine Feinde triumphierten nur kurz, ich versagte nicht, meine gute Nase und mein Engagement (wer immer mich anrief, fand mich wenige Minuten danach neben sich stehen) und meine Konstanz verhinderten, dass ich nochmals rausgeworfen wurde. Wieder: der Ankläger fiel leider einem Lungenkrebs zum Opfer, nicht ohne mir ein wichtiger Warner geworden zu sein: alle seine Ratschläge zu richtigem Verhalten befolgte ich genau – ich machte das Gegenteil. Dieter Spork wollte nach der Pension sogar mit mir das Du-Wort tauschen und R. Kurz (2. Reihe, zweiter von links) blieb mir ein treuer Begleiter.

Ich beende diesen längsten Blog mit einem Hinweis auf meine Verarbeitung meines Rauswurfs aus der Ostseeklinik, den ich romanhaft in meinem Krimi: Ostsee-Intrige  verarbeitet habe. Gegen alle ungeschriebenen Regeln verstieß ich, der Generaldirektor meinte ich sei für eine Leiterfunktion nicht geeignet. Mag sein. Mein Auftrag war es gewesen eine psychosomatische Klinik aufzubauen, ich habe es nicht geschafft.

Heute bin ich Pensionist. Ich spüre den Widerspruchsgeist meiner Jugend noch immer. Wenn ich seit zwei Monaten bei meiner Tochter Anna in Teneriffa lebe, bemerke ich die ungeschriebenen Regeln des Haushalts sehr wohl, sehe Widersprüche in der Erziehung ihrer Tochter (sie kauft ihr Kind einen Router, damit Mia in ihrem Zimmer eine stabilere Internetverbindung hat und will, dass Mia nicht so viel im Internet ist), erlebe meine Schwäche indem ich Essen einen zu hohen Stellenwert einräume u.v.a.m.

Ich fürchte mich rauzufliegen, habe Vorkehrungen getroffen, wenn es doch geschehen würde und weiß inzwischen, wie ich so fliege, dass ich’s überlebe. Aber angenehm wird’s nie werden, nur die Erfahrung, dass ich es mir meist verbessert habe und dass das Leben auch ohne Hashomer Hatzair, MLS und Ostseeklinik weitergeht, macht mich sicherer. Vielleicht stimmt es, dass es ums Aufstehen geht und nicht ums Fallen? Oder es ist der Preis, den ich zahlen muss, weil ichangeblich ein Agent provocateur war und geblieben bin. Mut will ich denen machen, die sich mehr fürchten als ich. Es geht um die Technik des Fallens, mehr noch um die Technik des Aufstehens. Verboten ist nur Liegenbleiben. 

Sollten meine Aufzeichnungen gedruckt werden, so sicher nicht im Gmeiner Verlag. Denn auch dort habe ich gegen Regeln verstoßen, ohne sie zu kennen. Als die Cheflektorin mit mir beschloss, dass der Roman druckfertig war aber mir ein neuer Lektor dann nochmals 300 Änderungen zur Kontrolle einsandte, war ich nicht mehr bereit diese durchzusehen. Der Sündenfall bei dem ursprünglich christlichen Verlag (er war gegründet worden, um die päpstlichen Bullen und Briefe in Esperanto zu publizieren) wird hienieden nicht entschuldigt. Da ich aber schon genug erfolglose Bücher für mein Leben geschrieben habe, mache ich daher nun was anderes. Vielleicht gibt’s auch ein Leben ohne Schreiben.