Aaron will sein

Aaron ist noch mehr als alle Kinder ein Geschenk. Marguerite und ich fuhren nach Japan. Wir nahmen am Weltkongress der World Association for Mental Health and Allied Professions (WAIPAD) teil. Wir hielten eine Präsentation. Zur Sicherheit – und damit eine neuerliche Schwangerschaft nur ein Jahr nach der Geburt Samuels hintangehalten wurde – nahmen wir den 11 monatigen Samuel mit. Zu spät, Aaron war bereits gezeugt.

Aarons Zeugung ist mir nicht erinnerlich. Wir waren sehr verliebt, nach Samys Geburt hatten sich die Verhältnisse ein wenig geklärt: Marguerite war aus dem gemeinsamen Haushalt mit Christoph ausgezogen, Ingeborg war mit den Mädchen nach Wien gegangen, Marguerite und ich lebten getrennt, aber das Versteckspiel war zu Ende. In Marguerites kleinen, netten Wohnung in der Goethestraße hatte sie einen Flachbetttoaster auf dem Wolfi das Abendessen zubereitete. Anna war 10 Jahre alt und Zweitmami, Wolfi der Techniker, Lilli die süße Kleine, Sämy das Baby an der Brust. Die Sommertage (Sämy wurde am 06.08. geboren) wurden im Margarethenbad verbracht, einem Stadtbad mit Nirostaschwimmbecken, sehr aufmerksamen Bademeistern, einem Kleinkinderbecken und einem Buffet, das Pommes frittes hatte auf die nicht nur große Mengen Salz gegeben wurde, sondern obendrauf noch ein Klatsch Ketchup. Marguerites Kinder konnten dort Pommes, Eis, Getränke nehmen so viel sie wollten, sie zahlte abends. Ohne Einschränkungen gab’s keine Gier, die Kinder aßen, wenn sie hungrig waren, luden andere Kinder ein, die kein unbeschränktes Pouvoir hatten, sprangen und schwammen den ganzen Tag. Sämy nuckelte an Marguerites Brust, die im Schatten lag. Ich arbeitete in der Univ.-Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde, die Kämpfe der Kolleg*innen die das Ziel hatten uns zu vertreiben waren von einem tagtäglichen Kampf zu einer steten Dauerunterhaltung geworden und weniger aggressiv.

Meine Habilitation nahm Gestalt an: ich hatte mich – nach dem Wunsch die Psychosomatik auf völlig neue Füße zu stellen indem ich die Oberflächenantigene der weißen Blutkörperchen (die HLA Muster) mit den Erkenntnissen der Tiefenpsychologie in Einklang bringen wollte und damit eine Epigenetik der Persönlichkeit zu erschaffen, obwohl weder das Genom entschlüsselt war, noch die HLA Muster zu anderem als zur  Überprüfung, ob ein Organ transplantiert werden kann benutzt werden konnten – entschlossen meine Habilitation als einen Akt der beamteten Laufbahn anzusehen. Der spätere Dekan UP Dr. Wurm half mir dabei sehr. Er sagte, dass er ununterbrochen Kollegen träfe, die eine tolle Habil einreichten und dann enttäuscht seien, weil es nicht der Anfang, sondern das Ende ihrer Karriere war: „Du wirst zwar in den Offiziersstand übernommen, aber das heißt noch lange nicht, dass Du Oberst wirst! Das entscheidet sich wo anders.“ Er riet mir es mir nicht zu schwer zu machen. Also wandte ich das in Österreich kaum angewandte Diagnosesystem der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft, das Diagnostische und Statistische Manual in seiner 4. Fassung (DSM IV) auf meine Patienten an. Das reichte. Wir waren durch Marguerites US-amerikanische Staatsbürgerschaft sehr an den USA interessiert. Vor dort kamen die meisten Initiativen, ich sollte im in Journal der American Academy for Child and Adolescent Psychiatry veröffentlichen. Das gelang, weil ich nach New York flog und den beiden Herausgeber*innen meine Aufwartung machte. Die entscheidende Frage war: „Sind die Österreicher Nazis, oder Kommunisten?“ Als ich beides verneinte, wurde mein „Letter to the Editor“ angenommen – das reichte für die Habil.

Es muss damals gewesen sein, dass Marguerite und ich aufhörten bei jeder Krise und jedem Wunsch der Kinder nach der ursprünglichen Familie unsere Beziehung in Frage zu stellen. Wir beschlossen – egal was kommen würde – nur mehr ein einziges Mal mit dem Ende der Beziehung zu drohen, nämlich wenn sie beendet sein würde. In 35 Jahren ist es nie mehr vorgekommen.

Also Reisevorbereitungen Japan: wir beschlossen ein Dreiwochenticket für den Shinkansen zu buchen und von Kyoto aus die japanischen Inseln mit dem pfeilschnellen Zug zu besuchen. In Kyoto wohnten wir im Princehotel, so wie die berühmten, eingeladenen Amerikaner. In der Hall wurde um 17 Uhr ein Wasserfall eingeschaltet, der mit frischem Vulkanwasser eine kühl-feuchte Stimmung zum Fünf-Uhr Tee verbreitete. Sämy war für die Japaner ein Wunder: sie gingen mit keinem Kind unter zwei Jahren auf die Straße. Sämy lernte gerade Gehen, fiel hin, stand auf. Geschah das in der Öffentlichkeit stürzten Japanerinnen hinzu, um ihm aufzuhelfen, was bei Sämy zu einem Schreianfall führte. Er wollte von keiner Fremden berührt werden.

Marguerite war das zweite Wunder für die Japanerinnen. So große, starke Frauen gab’s nicht. Nach dem Kongress fuhren wir mit dem Shinkansen in den Hakone Nationalpark. Wir besuchten eine wunderschöne Ausstellung mit den Picassos

https://www.japan.travel/luxury/detail/the-hakone-open-air-museum/

 – seinen Statuen, seinem Porzellan, seinen Bildern. Dann beschlossen wir den Fuji zu besteigen. Wir starteten am späten Vormittag, Marguerite trug Sämy in einem Wickeltuch auf der Hüfte, manchmal am Rücken. Wir waren schlecht ausgerüstet, ich hatte braune Clarks Halbschuhe, Marguerite ein großes Kleid, Sneakers und stillte. Ungefähr auf der 8. Station kamen wir in einen Sturm. Blitze schlugen neben uns ein, Regen peitschte uns ins Gesicht, die Plastikponchos konnten nicht verhindern, dass wir nass wurden. Sämy klammerte sich ganz still an seine Mutter, in der Hütte angekommen rissen uns die Wirtsleute wortlos unsere Kleidung vom Leib, gaben uns trockene Stücke und setzten uns nebens Feuer, das in der Mitte des Raums brannte.

In der stürmischen Nacht gestand mir Marguerite, dass sie seit drei Monaten nicht mehr menstruierte. Sämy war in der Nacht so verändert, dass wir an einen Darmverschluss dachten, so krampfhaft weinte er. Unseren Wunsch den Kraterrand zu erreichen, gaben wir auf. Wir gingen, wir schlitterten mehr am Morgen nach Sonnenaufgang die Abhänge des Fuji hinab und kamen mit blutigen Sohlen im Tal an. Aaron möchte oft nach Japan. Er sagt er wäre noch nie dort gewesen, sein Besuch im Mutterleib wird von ihm nicht als „Besuch“ angenommen. Was nicht ganz stimmt. Für uns war er während der ganzen Reise dabei und wurde sechs Monate später in meinem Arbeitszimmer geboren. Ich war mit einer Hebamme sein Geburtshelfer, aber das ist eine andere Geschichte.