Das gehört dort nicht hin

Nachtdienst – Zeit Fehler zu machen, oder die anderer zu korrigieren. Bis 2011 begann ein Wochenenddienst noch Samstag acht Uhr früh und endete Montag um 9, 49 Stunden lang. In dieser Zeit war man für alles im Haus verantwortlich. Wegen starker Bauchschmerzen bei einem Fünfjährigen Knaben wurde ich in den 3. Stock der Infektionsabteilung gerufen. Wegen Bauchweh war er unter mit der Verdachtsdiagnose Gastroenteritits (Magen-Darmentzündung) aufgenommen worden. Als Vorerkrankung hatte er bei Frühgeburtlichkeit und Intensivpflege nach einer frühkindlichen Gehirnblutung eine Sonde, die die Gehirnflüssigkeit (Liquor cerebrospinalis) in den Bauchraum ableitete

Thomas schrie vor Schmerzen. Er krümmte sich zusammen. Ich hatte ihn zuvor visitiert und die Diagnose Gastroenteritis (GI), die auf der Fieberkurve stand übernommen. Die meisten Kinder der Station hatten dasselbe, sie waren alle zur Infusionstherapie aufgenommen worden und würden voraussichtlich nach dem Ende meines Diensts nach Hause entlassen werden. 

Das ist immer gefährlich: wenn man von der Umgebung auf den speziellen Patienten schließt. Denn merke: Nicht allen Menschen, die auf eine Chirurgie zu liegen kommen, benötigen eine Operation. Nicht alle Patienten, die an einer Psychiatrie aufgenommen werden, sind geisteskrank (siehe meinen in Kürze erscheinenden Artikel: Die herzkranke Wahnsinnige). Es gibt Irrtümer, Abweichungen, Fehler bei der Ersteinschätzung. Ursache dieser Fehler können systematisch sein: dass der/dieÄrzt*in in Schablonen denkt; dass es ihn/sie an einen anderen Patienten erinnert (und sei es nur wegen der Frisur); dass er/sie sich in einem Feld besonders gut auskennen und daher nach Beschwerden fragen die sie kennen, um Antworten geben zu können; dass die Krankheit in der Region („Ah von dort kommen heute alle mit Grippe!“), oder der Zeit („Im Sommer verderben sich die Kinder viel den Magen!“) besonders oft vorkommt – oder einfach Inkompetenz, Nachlässigkeit, Müdigkeit, oder Desinteresse. Alles das kann vorkommen.

Thomas war ängstlich gespannt, die Bauchdecke angespannt und am typischen Punkt im rechten Unterbauch (dem McBurny Punkteindeutigen Druckschmerz. In Befolgung der alten Weisheit: Wenig Menschen haben Läuse und Flöhe, dachte ich an seine Gehirnsonde sich an der Einmündung des Dünndarms in den Dickdarm, quasi einem „Eck“ des Darms verfangen haben könnte. Dann könnte sie die nahegelegenen Darmabschnitte durch mechanische Reizung entzündet haben. Das müsste man schnell operieren. Mit der Verdachtsdiagnose Wurmfortsatzentündung (gemeinhin Blinddarmentzündung genannt, früher einmal viel schöne: Seitenkrankheit) bat ich den diensthabenden Oberarzt der Kinderchirurgie um ein Konsil. Mein Fehler! Erstens mochte  der Oberarzt den weiten Weg von zirka 100 Metern bis zur Infektionsabteilung nicht; zweitens war er Alkoholiker; drittens machte er im Dienst um die ungeliebte wissenschaftliche Arbeit zu erledigen. Er beschied mich, dass er am Nachmittag kommen würde, aber keinesfalls vor vier, also nach seiner Siesta. Jetzt sei er sowieso am Weg zu einer Operation und unabkömmlich. Außerdem werde es schon eine GI sein, ich sei auf der Infektion und dort sei es immer das. Ganz selten bei Kleinkinder gäbe es Darmverschlingungen.

Noch ein Fehler: statt den Neurochirurgen wegen der Gehirnsonde zuzuziehen, blieb ich aus falsch dummer Solidarität beim Kinderchirurgen. Scheußlicher Fehler, vielleicht auch, weil ich die schlechte Nachrede fürchtete. Pfui!

Ich gab Thomas nichts mehr zum Essen (damit er jederzeit operiert werden konnte) und Schmerzmittel. Geduldiges Abwarten. Es kam wie es kommen musste. Dr. Schimpl kam um 16 Uhr und drückte am Bauch herum, der nach dem Schmerzmittel weich und unauffällig war. Er sagte, dass der Schmerz vielleicht von einem eingeklemmter Schas (Das sagt man nobel, aber um nichts besser mit: flatus incarceratus gravis – Beschimpfung meiner Person und des Kindes) herrührte und ging, seinen Schnurrbart zwirbelnd, es mir gegeben habend, mir meine Inkompetenz bewiesen habend, lächelnd in sein eigenes Reich zurück.

Als die Wirkung des Schmerzmittels nachließ wand Thomas sich im Bett. Anruf Kinderchirurgie. Man aß zu Abend. Die Kinderchirurgen bestellten meist Essen im Häuserl im Wald und aßen gemeinsam. Das Abendessen war wie eine heilige Handlung, die nur im äußersten Notfall gestört werden durfte. Mir war es verboten: einerseits war ich nicht im Team andererseits sollte der Infektionsdienst keine Keime in die Kinderchirurgie einschleppen. Ich könnte, wurde mir beschieden, Thomas zu einer nochmaligen  Begutachtung in die Ambulanz schicken. Das hieße: Rettung bestellen, Infusion abhängen, den schmerzgeplagten Knaben mit Mama und einem Arzt schicken. Ich gab das Schmerzmittel weiter. Abwarten. Der Chirurg musste es ja wissen. (Im Hinterkopf wissend, dass ich noch einen interkollegialen Fehler gemacht hatte: man darf als Kinderinternist den Chirurgen nicht sagen, dass man an eine operationspflichtige Krankheit denkt. Sie fühlen sich fremdbestimmt – und so weit kommt’s noch, dass ein Kinderarzt an eine Appendicitis denkt!)

In der Früh war das Kind „verfallen“. Kalter Schweiß auf der Stirn, hohes Fieber, mit allen Zeichen einer Gehirnhautentzündung. Ich war einerseits furchtbar erschrocken, andererseits in meiner diagnostischen Annahme bestätigt. Ich dachte wieder, dass sich das Ende der Sonde verfangen hätte. Anrufen. Antwort: „Schick den Buben endlich in die Ambulanz!“ Ein „chirurgischer Bauch“ – wenn das Kind am Leben bedroht ist, gehört in die zuständige Abteilung. Thomas wird übernommen, kommt auf Station, liegt ab, Schmerzmittel. Ich erkundige mich nach dem Ergebnis der Lumbalpunktion – es wurde keine gemacht. An der Kinderchirurgie gab’s pädiatrische Intensivstation an die ich mich – unter Umgehung des Oberarztes – hätte wenden können. Aber es reichte auch so. Nach meinen Anruf wurde das Kind dorthin verlegt und eine Lumbalpunktion durchführte die Escherichia coli (einen Stuhlkeim) im Liquor fand!

Bei der nun anberaumten Operation wurde eine neue Sonde gelegt und Antibiotikum direkt ins Gehirn und Rückenmark eingeleitet. Das Kind gerettet. Ein Hörschaden (durch die Eiterung an der Hirnbasis) war alles, was blieb.

Lob – nur heute durch mich selbst. Das muss reichen! Damals: Schimpf, dass ich nicht eindeutig genug gewesen wäre. Der Doktor hätte mich nicht verstanden. Die Dokumentation meiner Zuweisungen, meiner Untersuchung – alles Schall und Rauch. Eine schöne Erinnerung bleibt’s dennoch.