Ein Sitzstreik 

1988 – meine Station wurde gesperrt. Aus dem Nichts heraus. Sicher, viele wollten das schon lange. Mein Nachbar, UP Dr. Zach benötigte die Betten. Er wollte die Pneumologie und Allergologie zu einer Abteilung machen, was ihm auch gelang. Allerdings musste er dafür die kritische Anzahl an Spitalsbetten auf 24 steigern und da beschloss er meine Einrichtung zu stehlen.

Das klingt einfach. Vielleicht war mein Chef Prof. Kurz unaufmerksam. Also konnten die ihm an sich untergeordneten Abteilungsleiter eine Veränderung in seinem Department inszenieren. Ein unerhörter Vorgang, aber es fand statt. Ich kam auf Station und die Stationsschwester teilte mir mit, dass ich hier keine Funktion mehr hätte. Was tun?

Ich nahm meine Mitarbteiter*innen so wie sie für die Visite der Kranken um mich herum standen ins Erdgeschoss. Wir setzten uns auf die Stiegen, die in den 1. Stock führten und plauderten. Anfangs erregt dann immer ruhiger. Im Buffet kaufte ich für uns alle eine Jause. Wir aßen auf der Stiege.  Prof. Dr. Kurz kam vorbei – er musste verständigt worden sein. Er war Klinikchef und Leiter der Abteilung für allgemeine Pädiatrie, ein Sammeltopf all jener Subspezialitäten, die keine eigene Abteilung bildeten, wie meine Psychosomatik, die Gastroenterologie, Nephrologie, Kinderneurologie und andere mehr. Ronald Kurz war als Abteilungsleiter mein inhaltlicher als Vorstand mein personeller Chef, der alles was mich betraf zu entscheiden hatte. Ich war nach der Habilitation 1985 pragmatisiert, daher fast unkündbar. Da war es leicht furchtlos zu sein. Überdies war das Instrument Sitzstreik eine kleine Erinnerung an meine Zeit als Studentenpolitiker, wo ich „revolutionär“ gewesen war. Überdies war ich nicht sicher, ob ich in Graz bleiben wollte. Ich war 37 Jahre alt und empfand die Welt bunt, groß und voller Möglichkeiten. Die Sicherheit einer beamteten Stelle als Arzt war zwar ein weiches Bett und ermöglichte die Ernährung meiner Familie, aber mein Freund Peter Sichrovsky beschimpfte mich als Stubenhocker. Er lebte in USA, Asien und verglich mich mit einem Busfahrer, der jeden Tag die gleiche Strecke fährt und nur ganz selten etwas erlebt. Er fand ich müsste mich riskieren, aufhören so bequem zu leben, denn bald wäre es vorbei. 

Marguerite, Kollegin und Mutter unserer drei Buben mit der ich den psychosomatischen Schwerpunkt betreute kam aus der Welt der Wissenschaft. Sie mochte Graz und die Kinderklinik, wusste aber, dass die Welt größer war, als man sie hier erlebte. Sie war sich sicher, dass sich neue Möglichkeiten auftun würden, wenn man alte verlässt. Wir hatten uns beide von unseren Partnern getrennt, obwohl wir schon zwei und drei Kinder hatten. Wir wollten uns nicht nur fürchten, wir mussten ein bisschen riskieren, wenn wir unseren Schwerpunkt erhalten und weiterentwickeln wollten. In Graz war die Errichtung einer Kinder- und Jugendpsychiatrie geplant, der sollten wir zugeschlagen werden. Wir wollten an der Kinderklinik bleiben, Kurz wollte das auch, allerdings setzte er sich für eine neue Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie ein, die jährlich beschlossen wurde und 33 Jahre später noch immer nicht existiert. Das grazer Umfeld und die streng hierarchische Struktur der Klinik war kein Nährboden für Mut und Aufruhr. Graz ist eine Kleinstadt, es bestand und besteht ÖVP Dominanz im Dienststellenausschuss, im Betriebsrat, im LKH und im Land – in der Professorenkurie sowieso. All das lud ein seine Wünsche und Bestrebungen ruhig, diplomatisch und hinter den Kulissen zu verfolgen. Sitzstreiks gab’s nicht, vielleicht 20 Jahre zuvor an der Uni, aber sicher nicht im Spital.

Da saßen wir nun – zirka 20 Menschen in weißen Mänteln, neben mir der fast zwei Meter große Forschungsassistent Dr. A. Trojovsky – auf der Stiege, die zum 1. Stock führt, plauderten und warteten ab. Kolleg*innen kamen und gingen, Eltern und Besucher fragten uns das Eine, oder das Andere, Staunende blieben stehen. Prof. Beitzke bekam einen seiner Zornanfälle und schrie: „Geht’s arbeiten!“ Ambulanzschwestern baten uns zu gehen, weil sie fortwährend Auskunft über uns geben müssten. Wir blieben.

Weder durften ich den Dienstort verlassen noch die Presse informieren – beides wären schwere Dienstvergehen gewesen. Nichtstun ist nicht verboten, sonst müsste man oft einen Beamten kündigen. 

Die Situation war klar. Wenn wir keine Station mehr hatten, wenn unsere Aufbauarbeit mit den Diplomkrankenschwestern, den Ärzt*innen, den Physio-, Ergotherapeutinnen und Logopädinnen zerstört wurde, dann hatten wir einen freien Vormittag. Lediglich eine Spezialambulanz zu betreiben und Kinder bei Bedarf in irgendein Bett der Abteilung zu legen, schien uns unmöglich. Wir hatten es versucht. Die psychischen Probleme, die Verhaltensauffälligkeiten und die schwierige Interaktion mit den Eltern der psychosomatisch kranken Kinder war für unsere Kolleg*innen nicht bewältigbar gewesen, so dass die Kinder unbehandelt nach wenigen Tagen entlassen worden waren. Ungeheilt, ungebessert – zur weiteren ambulanten Therapie. 

Wir blieben sitzen, Prof. Kurz kam und ging. Er besprach sich mit anderen Abteilungsleitern. Mir fällt auf, dass ich angenommen habe, dass ihm die Sperre „passiert“ war. Vielleicht stimmt das nicht und er war nur zu feige mir das mitzuteilen, so wie wenn man seinen Partner aus der Wohnung aussperrt indem man das Schloss austauscht, statt vorher darüber zu reden. Vielleicht war ihm der Sitzstreik peinlich, weil er wusste, dass wir aus unserer Sicht im Recht waren. Es kann genauso sein, dass er die Psychosomatik als Spezialambulanz gut fand und ihm die stationäre Betreuung der Kinder und Jugendlichen missfiel. Vielleicht hatte man sich auch beschwert. Das Klientel gehöre nicht in eine pädiatrische Klinik, es müsste eine neue Kinder- und Jugendpsychiatrie auf der grünen Wiese errichtet werden, die Kinder trügen nicht einmal Pyjamas, was eindeutig darauf hinweisen würde, dass sie nicht wirklich krank wären.

Wie blieben trotz seiner Beschwörungen die Stiege zu räumen, sitzen. Es wurde Mittag, die Kolleg*innen strömten zur Mittagsbesprechung. Keiner von uns besuchte sie. Wir hätten auch nichts zu berichten gehabt. Spezialambulanzen berichteten nur in Ausnahmefällen. Nach der von ihm geleiteten Besprechung kam Prof. Kurz wieder zu uns. Die Sperre war aufgehoben, alles blieb beim Alten. Die Lehre daraus? Selbst in einem beamteten, hierarchischen Umfeld ist Widerstand von unten möglich und sinnvoll. Wir hatten noch fast 30 Jahre Entwicklung und Aufbaus an der Klinik. Wie’s wäre, wenn’s anders und woanders geworden wäre – diese Geschichte bleibt ungeschrieben.