Mein Großvater Oskar (geb.: Ossias) Blumenfeld (geb.: Zuckerberg)

Ich nehme mir schon lange vor, strukturierter und chronologischer zu werden. Dann denke ich an andere jüdische Schriftsteller*innen, wie Lilli Bret  und bleibe wie ich bin. Orientierung ist eine Täuschung. Man kann das Leben weder beschreiben, noch nachvollziehen. Eine Biographie, wie Ernst Lothar in seinen Erinnerungen sagt, sollte ehrlich sein und Rechenschaft geben. Manchmal gelingt es dem großen Österreicher und manchmal versagt er, weil er sich mancher Kränkung nicht erinnern will, oder nur mehr die Kränkung erinnert, weil er Namen als selbstverständlich voraussetzt, die damals bekannt allgemein waren und ähnliches. Erinnerung wird je und je neu erfunden.

Mein mütterlicher Großvater Oskar von den ich in meinem Buch: Lust aufs Alter  erzähle, dass er mein nächtlicher Berater wäre und mir im Traum erschiene, kam aus Przemyśl in Galicien. Er wurde 1885 als Ossias Zuckerberg in die heile, ewige Welt der benachteiligten Regionen des anscheinend immerwährenden Habsburgerreichs Österreich-Ungarn geboren, beschützt von einem gütigen Landesvater Franz-Josef I., der 1848 den Thron bestiegen hatte. Subsidiär führte die Gemeinde das Geburtenbuch, erst bei seiner Inskription in Wien musste er im 2. Studienjahr der Jurisprudenz eine standesamtliche Bestätigung beibringen, wobei er den Vatersnamen annahm: Blumenfeld. Gelebte Praxis frommer Juden war es, das Rekrutierungsgesetz insofern auszunützen, als Kinder anfangs mit dem mütterlichen Namen eingetragen wurden, da die Eltern religiös, jedoch nicht staatlich geheiratet hatten. Weiters trachte man die Knaben zu Erstgeborenen zu machen, damit sie nicht einrückend gemacht werden konnten. So trugen Marguerites väterliche Urgroßeltern und deren Geschwister in Odessa unterschiedliche Familiennamen und ihre Ahnen, da man langsam der Variationen ermangelte nach dem angrenzenden Fluss Donetz – Dunitz. Ossias stammte aus wohlhabenden Verhältnissen – auf dem Besitz wurde Petroleum gefunden, das damals für Beleuchtung verwandt wurde. In Przemyśl lebte er mit sieben Geschwistern und seinen Eltern. Von den Eltern weiß ich nichts. Der von mir verehrte Opa Dr. Oskar Blumenfeld war Rechtsanwalt in Wien 1, Wipplingerstraße 21. Das Haus reicht bis in den Tiefen Graben, wenn man von der Freyung kommt das letzte auf der rechten Hand. So hat das Haus, wenn man in der Wipplingerstraße eintritt 5 Stockwerke, allerdings reichen nach unten noch 4 -5 Stockwerke, die ich nie betrat. Es liegt direkt an der Hohen Brücke („Über die Hohe Brücke, führt der Weg zum Glücke!“, war der Wahlspruch der Klassenlotterie.). Während seines Jurastudiums in Wien wurde er Mitglied einer schlagenden jüdischen Burschenschaft. So war es nur logisch, dass er 1914 als Justizassessor im Range eines Fähnrichs im 1. Weltkrieg diente. Die Kriegszeit verbrachte er in Palästina wo er Uhren verkaufte und reparierte. Das hatte er im Krieg gelernt, weil er für die Ausfertigung der Todesurteile verantwortlich war und diese schon vor der Verhandlung ausfertigte. So hatte er Zeit die Taschenuhren der Herrn Offiziere zu reparieren. Das habe ich, glaube ich, schon wo beschrieben, aber so geht’s: wenn man seine Erinnerungen schreibt, ist gerade das Erinnerungssystem nicht mehr das, was es einmal war. 

Er verfolgte nachdem er 1954 aus Israel nach Wien zurückgekommen war, Wiedergutmachungssachen für Menschen, die nie mehr nach Österreich kommen wollten. Er machte zwischendurch Späße mit mir, wenn ich mich in seine Kanzlei traute. Er pflegte im Sekretariat der Kanzlei auf und ab zu gehen, zu rauchen und seiner Sekretärin Czepka zu diktieren. Ihr habe ich in meinem Roman: Ostseeintrige ein Denkmal gesetzt. Im Roman gibt’s eine sehr nette Sekretärin, die ihren Namen trägt und bei der Aufklärung der Raubersgschicht bedeutend ist. Sie mochte mich und erklärte mir maschinschreiben, ließ mich auf teurem Kanzleipapier zeichnen und ertrug, dass Opa dann schimpfte, weil das eine Kanzlei sei und kein Kindergarten. Opa trug immer Hemd, Krawatte und Spenzerl, darüber eine Hausjacke –Vorkriegskleidung eines Anwalts. Wenn er eine Causa vor Gericht zu vertreten hatte, kam er oft geknickt zurück und sprach beim Essen wenig, außer: „Es sind dieselben Richter, die noch vor wenigen Jahren am Volksgerichtshof Todesurteile verhängt haben.“ Manchmal sagte er auch: „Es gibt nur Juden und Nazis. Etwas Drittes gibt es nicht.“ Mama war dann entsetzt. Sie wollte nicht, dass ich in Österreich aufwuchs und so ein Bild von meinen Mitmenschen haben sollte. Vielleicht hatte er Recht, in seinem Bereich nach der lächerlichen „Entnazifizierung“, die mangels politisch unbelasteten  Richtern und Staatsanwälten, die die Rechtspflege weiter hätten betreiben könnten, fast unterblieb, gab es Nazis die urteilten und Juden die als Bittsteller kamen, um das ihnen geraubte Vermögen auf Basis von Gesetzen, die die Diebe bevorzugten und mit Richtern – siehe oben – zurückzufordern. Wenn Opa nicht arbeitete, seinen Diabetes behandelte, spielte er Bridge. Meist im Kaffee gegenüber mit Buko Bittmann, einem Textilhändler vom Salzgries und anderen. Kam meine Tante Edith dann war sie seine Partnerin. Er freute sich darauf mit ihr zu spielen, fürchtete sich aber auch. Edith spielte mit großem Ehrgeiz und mathematischem Kalkül. Abends, wenn die beiden vom Kartentisch kamen, wurde gestritten, manchmal stundenlang: „Wieso konntest Du auf Drei Ohne lizitieren, wenn Du nicht einmal drei Herz im Blatt hattest?“, lautete dann ein möglicher Vorwurf der Tante. Opa versuchte einen Witz, oder sagte, dass er risikofreudig sei. Erfolglos! Edith kannte keinen Spaß und beim Bridge hörte sich der wenige Humor ganz auf. Meine Mama spielt das eine, oder andere Mal zu Hause mit den beiden Bridges, wenn ein Partner fehlte, aber jedes Mal mit großem Verdruss. Bis heute kann und will ich nicht Bridgespielen lernen, es scheint mir ein Spiel des Ärgers, Zorns und Verdruss zu sein und außerdem bin ich kein Stratege und kein Rechner und daher chancenlos. 

Ich sehe Opa und mich in seinem Bad stehen, er schleift die Injektionsnadel in einem kleinen Schächtelchen, das dafür zwei Lederlippen hat. Für heutige Begriffe waren die Nadeln zu dick, trotz Schleifen zu stumpf. Opa war kein begnadeter Injizierer. Er hatte zwar Degenfechten in seiner Offiziersausbildung im 1. Weltkrieg gelernt, aber sich stechen und dann Insulin spritzen, ich weiß es nicht mehr genau, aber ich glaube es waren zwei Mal pro Injektionssitzung wegen der Mischung aus Akut-, und Altinsulin nötig und dann noch Angst haben, dass es eventuell nicht stimmte, weil die Einteilungen auf den Rekordspritzen kaum mehr leserlich war (deshalb durfte ich dabei sein, um mit meinen kindlichen Augen die Anzahl der Striche zu bestimmen, die das Insulin aufgezogen werden musste). Wenn es zu viel war konnte ein hypoglykämischer Zustand auftreten, weswegen Opa immer Traubenzucker mit sich führte. Ich schwor mir nie Diabetiker zu werden und habe mich bis ins 69. Jahr darangehalten, obwohl ich mit meiner Fettstoffwechselstörung es schon seit meinem 60. Jahr sein sollte, wenn die Theorie stimmte. 

Opa war herzleidend, litt unter verstopften Beinarterien, was bei ihm zur Schaufensterkrankheit (claudicatio intermittens) führte. Er blieb alle hundert Meter stehen, schon der Weg von Wipplingerstraße 21 bis zur Post war weit. Heute ist die einst so stolze Post gegenüber der Börse im Umbau und es sollen Eigentumswohnungen und ein Hotel daraus werden. Tempora mutantur et nos mutamus in illis.

Er rauchte 40 – 50 Zigaretten täglich und wollte gern alt werden. Er wurde 75, immerhin. Das Leben, zwei Weltkriege, dreimal neu beginnen, die unglückliche Ehe, Diabetes, Übergewicht und die Zigaretten – all das verlängerte sein Leben nicht und machte es zu Zeiten anstrengend. Er war ein neugieriger Mensch, las mit Begeisterung A. Einsteins Relativitätstheorie und wollte mir als 10, 11jährigem sie erklären. Ich hab’s bis heute nicht verstanden aber es lag nicht an mangelnden Versuchen.

Er starb als ich mit 13 Jahren Bar Mitzwah wurde. Seine Bedingung für eine goldene Omegauhr war, dass ich die ganze Thora auswendig konnte. Da ich nicht wie er aufwuchs, sondern in einer österreichischen Mädchenvolksschule ohne religiösen Unterricht, war davon keine Rede. Ich konnte mit Mühe das hebräische Alphabet. Opa freute sich, dass Mama das für mich im wiener Stadttempel ausrichtete, konnte aber nach zwei Herzanfällen nicht daran teilnehmen. Heute besitze ich „seinen“ Platz in der 3. Reihe, nur zwei Sitze daneben. Beide Herzänfälle ereigneten sich im Hotel Esplanade in Baden/Wien. Er liebte Baden, das warme schwefelhältige Wasser in das allerdings nur Oma ging, die Ordnung im Hotel. Alle Männer kamen zum Frühstück in Sakko und Krawatte, abends trug man dunkle Kleidung, meist Smoking, oder dunklen Anzug. Der Spaziergang reichte bis in den Dobbelhofpark 

und zurück. Angeblich hat Baden ein Tiefdruckklima, so wurden seine Infarkte erklärt. Vielleicht hat er auch mehr gegessen, oder mehr Kaffee getrunken. Wie schön war die Kutschenfahrt zur Ferdinand Raimund Aussicht mit Mama, Daphne und ich. Ich durfte am Kutschbock sitzen, sogar im Park den Zügel halten und strahlte. Mama ängstigte sich, dass ich hinunterfallen könnte und Opa fand, dass ich zu viel sprach und zu laut war. Alles stimmte. Der Kutscher war wie im Märchen: Tracht mit Trachtenhut und Gambsbart, einen weißen Bart und – vielleicht füge ich das heute hinzu – eine Virginia im Mund. Der Geruch gehört einfach zu Erinnerungen an Ländliches. Wenn ich dieser Tage in die Augen Mias, meiner 13jöhrigen Enkelin schaue, wenn ich ihr etwas kaufe was sie sich zum Geburtstag wünscht, sehe ich meine damaligen Augen wieder. Opa konnte sich die Kutsche leisten, Opa nahm ein Taxi zum Bahnhof, wenn er verreiste, Opa hatte eine Krokodillederbrieftasche mit großen Scheinen – er war für mich reich, konnte alles kaufen, haben, leisten, wissen und war unendlich alt. 

Als er starb war es für die Familie eine Katastrophe. Erst jetzt erkannte man, dass für alle ein wichtiger Ansprechpartner gewesen war. Für mich ist er das bis heute. Glaubte er nicht an die geschäftlichen Fähigkeiten meiner Mama, war seine Ehe ein schwieriges Kapitel, konnte er nicht in der Kultusgemeinde reüssieren, war er als Anwalt nicht allzu erfolgreich – er war schlau, interessiert und quick. Wenn ich auch weniger intelligent bin als er es war, die Schläue habe ich von ihm geerbt.