Seetag - 13. Jänner 2020

"Die Leute meinen und lachen über unsereinen, dass so ein Stadtkind keine Heimat hat." Dieses Zitat von Anton Wildgans, das ich in meinem Buch: Lust aufs Alter zitiert habe, könnte auch auf einen neuerlichen Seetag passen. Der Leser, die Leserin könnte meinen, dass jeder Tag gleich ist. Weit gefehlt. In der letzten Nacht wurde die Uhr um eine Stunde zurückgestellt (wir segeln nach Westen). Marguerite stellte die Uhr vor. So waren wir um fünf Uhr wach. Was tun? Wir versuchten zu schlafen – Fehlanzeige. Also in den Gym. Sogar beide. Um sieben Uhr eröffneten wir das Frühstücksbüffet im 9. Stock. Das ist das tolle an Kreuzfahrten – kein Tag gleicht dem anderen.

Der ganze Tag war im Gegensatz zu dem letzten ein reines Vergnügen. Wir sportelten mittels Sitz- und Handrades, ich machte zwei Runden bei den Kraftgeräten und nach einer Stunde gab’s Rührei mit Zwiebel dazu frische, italienische Semmel mit Butter und Honig. Danach hatte Marguerite ihre Massage und ich durfte meinen gestrigen Bericht korrigieren. Um neun Uhr kam ein komplettes, kontinentales Frühstück ins Zimmer. Ich trank zwei kleine Kannen Formosatees und Marguerite noch einen Kaffee. So gestärkt und gut tonisiert las ich Hans Jonas: Ethik der Verantwortung. Ein sehr interessantes Buch, leider habe ich seit fast zwanzig Jahren kein philosophisches Buch mehr gelesen und der Anfang war schwer. Die erste Hypothese, dass die Ermächtigung des Menschen über die Natur durch die moderne Technik zu einer neuen Herausforderung führt, weil die bis dahin unbeeinflussbare Erde und deren Natur nun nachhaltig verändert werden kann. Ich freue mich auf die weiteren Seiten und hoffe es durcharbeiten zu können.

Ich dachte wir würden nun ein paar Nudeln zu Mittag essen. Allerdings denkt der Mann und die Frau entscheidet. Wir gingen in das Nobelrestaurant in den 10. Stock. Nobel ist es und ruhig und kostet pro Mahlzeit für uns beide 15.-€ extra. Wir finden das überschaubar und mögen beide sogenannte Pakete nicht, die einem hier überall angeboten werden. Wechseln auf einem Boot, auf dem man 112 Tage ist, macht uns mehr Spaß, als immer an derselben Stelle zu sein.

Sie wissen es schon: danach gibt’s eine Siesta, schon wegen des zu großen Konsums an Rosewein – so kann’s nicht weitergehen. Dann denke ich mir: warum eigentlich nicht?

Bei dem Sprudeln im Whirlpool in der untergehenden Sonne war es nicht nur fast zu stürmisch, sondern wir beobachteten Mitreisende, die wir zum Teil schon kannten: da ist ein über achtzigjähriger Hippy, der uns mit seiner gleichaltrigen Frau letztes Mal mir alle indischen Gewänder vor der Nase weggekauft hat. Er trägt so viele Freundschaftsbänder an den Armen, dass man seine Handgelenke nicht sieht. Ein Rossschwanz aus den schütter gewordenen, weißen Haaren geflochten und unter dem Gummiband seiner Baseballkappe hindurchgeführt, hellrote Brillen mit einem sehr guten Lächeln mit vielen Lachfalten an den. Augenwinkeln und bunte Kleidung vervollständigen das Bild. Er ist oft fröhlich und ich unterstelle, dass er einst ein Hitparadensänger, oder -musiker in Italien war und gut von den Tantiemen leben kann.

Da sind die Reisenden im Rollstuhl. Sie werden von ihren Partnern umsorgt und von der gesamten Crew. Da sie aber nur eine Sprache sprechen (meist Schweizerdeutsch) und oft Hilfe brauchen, neigen sie zu Ungeduld und Ärger. Man versteht sie nicht, oder nicht schnell genug. Ich weiche aus. Eine Frau mit kurzen Haaren lässt sich von ihrem Mann zu den Masseurinnen bringen. Dort will sie reden. Keine der Anwesenden versteht Deutsch. Statt später wiederzukommen, wenn das eine Mitglied des Teams am Desk sein wird, das Deutsch kann, wird sie unrund. Ihr kurzes Haar und ihre nachlässige Kleidung helfen ihr wenig, die Masseurinnen verstehen letzten Endes doch, dass sie eine ausgebildete Physiotherapeutin als Therapeutin haben will. Es gibt aber nur eine solche und die spricht wieder kein Deutsch. Selbst das versteht die Frau nicht. Unerledigter Dinge schiebt der Mann, der die ganze Zeit Abseits gestanden ist, seine Frau wieder weg. Vielleicht weiß er schon was ihm blüht.

Im Jargon der Angestellten heißen die Kreuzfahrtteilnehmer*innen PAX – die Auszunehmenden, wohingegen die Beschäftigten die Ausgebeuteten sind, die auf Zwangstrinkgeld und Zulagen angewiesen sind. Daher werden am liebsten Pakete verkauft – 20 Einheiten sind das Maximum und auch die müssen bald verbraucht werden, man kann sie nicht in den nächsten Abschnitt mitnehmen, von jetzt an bis Sydney, dann bis Singapur und dann bis zum Ende. Wer da nicht schafft, dem verfallen Einheiten, so dass die „Ersparnis“ durch den großen Einkauf wegfällt. Trinkpakete, Fitnesspakete – alles nur keine Einzelstunden. Ich will mich mit dem Fitnesstrainer Devin treffen. Er kommt nicht. Schade, ich wollte was für mich machen. 

Marguerite will, dass ich am Ausflugsbüro eine Tour von Christobal nach Panama City kaufe. Die Tour, bei der man nur nach Panama City gebracht wird und dann selbstbestimmt alles machen kann ist ausgebucht. Schön ist es auch hier anderen PAX zu beobachten: manche kaufen, die meisten sind vorwurfsvoll. An der sogenannten Rezeption, dem „Help desk“ sehe ich wieder die behinderte Frau, die eine Massage buchen wollte. Sie beschwert sich jetzt bei den völlig unzuständigen Mitarbeiter*innen, oder über etwas Anderes, so genau höre ich das nicht. Da das scheint’s auch nichts nützt, lässt sie sich von ihrem Mann zu Andrea führen, die im darüber liegenden Stock ein Büro für die Versorgung der Schweizer Gäste hat, die bei ihrem Reisebüro gebucht haben und vielleicht beschwert sie sich dort. Andrea ist eine blonde, schmale Mitvierzigerin, alleinstehend und verdient auf so einer Kreuzfahrt genug, um das restliche Jahr ihren Garten pflegen zu können und zu tanzen. Sie hat unendliche Geduld mit den anspruchsvollen, alten schweizer Gästen für die sie Ausflüge und vieles anderes organisiert. Abends sitzt sie mit ihnen an einem der Rauchertische im 9. Stock achtern und zieht an ihrer elektronischen Zigarette, bald wird sie ihr Bett ganz hinten am Schiff mit blauen Tüchern beziehen und zu Mittag von allen wegdrehen, um zu signalisieren, dass sie frei hat, wenn sie dort liegt und liest, oder einfach in der Sonne badet.

Heute ist Galaabend: man soll sich zumindest ein Hemd anziehen, die Angestellten sind im Smoking, oder weißer Uniform – der Kapitän lädt zu einem Empfang ins Theater ein. Das Essen ist anders, meist leider schlechter als sonst und die Speisekarte wird in einer Rolle präsentiert, nicht so wie sonst auf einem Einlageblatt eines dreiteiligen Heftchens. Beim Empfang des Kapitäns wird Prosecco gereicht und jeder Offizier vorgestellt. Dann gibt’s ein Foto mit dem Kapitän. Die Gläschen des Proseccos bleiben bis nach der Show auf den kleinen, ovalen Tischchen vor den Sitzbänken stehen. Manche sind halb ausgetrunken, Reste von Sekt, Orangensaft und Fruchtsaft sind zu sehen, Lippenstiftränder verschmieren die Gläser. Bei Hinausgehen werden sie von den Herren mit den herunterhängenden Teilen der offenen Sakkos, oder von den Damen mit ihren Handtaschen teilweise runtergeworfen. Da die Tischplatten aus Granit sind, klirren die brechenden Gläser hell.

Todes heißt die Gruppe die heute Abend auftritt: eine russische Tanzgruppe, die anfangs Schwanensee verfremdet. Sechs Tänzerinnen in Tutu treten zur Ouvertüre von Tschaikowskis Schwanensee auf. Dann stören sechs junge Herrn in Lederjacken, genagelten Stiefeln und Ketten, die aus den Jeans hängen mit einer harten, schnelle Musik die bekannte Szene der anmutigen Schwäne. Der dunkle Schwan in einer Gang. Eine Stunde sind sie auf der Bühne: ein Autorennen in Ferrari Anzügen wechselt mit einem romantischen Pas de deux, das von einer Gangstereinlage vor dem Hintergrund Chicagos aus der Zeit der Prohibition abgelöst wird. Akrobatik beendet das Schauspiel: durch eine Springschnur, die die ganze Bühne einnimmt, macht ein Tänzer mit kahlgeschorenen Schläfen und einem Rossschwanz, der in die Höhe steht, rücklings Flip-Flops.

Dann kommt’s scheint’s wie’s kommen musste: wir treffen Vreni und Sepp aus dem Kanton St. Gallen, Großbauern in Pension. Die sagen, dass an ihrem Nachbartisch im 2. Stock, den wir bisher nicht geschafft haben, zwei Plätze frei sind und wir gehen mit Ihnen um 20:30 in den Speisesaal, obwohl wir heute schon zweimal gegessen haben. Der erstmals anwesende Restaurantchef ändert nett und ohne die bisherigen Wegschickungen unsere Tischzeit, unseren zugewiesenen Tisch und da sitzen wir nun. Sepp erzählt von seiner Schweinezucht –  am schönsten ist seine Beschreibung des Kastrierens der männlichen Ferkeln. Er kann sie anästhesieren und macht das gerne selbst. Während der Erzählung macht er Handbewegungen am Steiß des Ferkels nach, wie er über die nun glatten Stellen am Steiß fährt. Man glaubt ihm, dass seine Ferkeln keine Schmerzen erdulden mussten. Er klagt über Fleischhändler, die bei einem übersehenen Pendelhoden behaupten, dass das Fleisch nach Testosteron stinkt. So als ob man die Funktion eines dysfunktionalen Hodens riechen könnte. Irgendwie ist es ihm anfangs peinlich, dass es um Schweine geht, wo wir doch Juden sind. Als ich Rohschinken bestelle ist dieses Problem gelöst.

Sepp erzählt von seiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Flüchtlingshelfer und Integrationsbeauftragter dreier Gemeinden im Kanton. Er macht es ehrenamtlich, früher war er Gemeindepräsident, oder so. Er hat es geschafft 17 Afghanen so zu integrieren, dass sie jetzt alle Arbeit und eine Wohnung haben und um die Niederlassung ansuchen können. Er macht das nachvollziehbar und scheinbar einfach: er sagt seinen Anvertrauten, dass sie grüßen sollen; er bringt ihnen die schweizer Regeln der Mistentsorgung und des übrigen Alltags bei; er sucht mit ihnen Arbeit. Vor allem trifft er sich jeden Abend mit ihnen, spricht mit ihnen, respektiert sie und wird respektiert. Er macht das bäuerlich schlau – ich würde mich ihm sofort anvertrauen. Ich freue mich, dass wir in zwei Wochen gemeinsam nach Galapagos fliegen, mit ihm fühle ich mich sicher. Wir essen mehr, als ich es vorhatte – jeder Bissen ein Vergnügen. Es gibt spanischen Rohschinken, dann Perlhuhn mit Rollgerste und Salat und zum Abschluss etwas Käse. Sowohl der Rosewein als auch das Essen dienen keinem ruhigen Schlaf. Denn der Versuch mit Marguerite, die ihre wunderschönen Tanzschuhe anhat diese auszufruchten, gelingt nicht ganz. Zwei Lamourhatscher, dann ist Schluss. Im Zimmer Licht aus. Nach einer Stunde gehe ich duschen und träume dann Krieg, Schlachten etc. Schweres Abendessen, schwere Träume hieß es in meiner Kindheit. So ist’s eben.

Doch in der Früh im Dunklen geht’s in den Fitnessraum ich mache alles durch und nach einer Stunde ist die Welt wieder in Ordnung. Meine Innenschau ist scheint’s vorbei: ein wenig Bewegung tut genauso gut.

<< Seetag 12.1. - Teneriffa >>