Ein Kinderarzt unterrichtet Theologie

Ich bekam eine E-Mail von Otto König, einem Professor für Dogmatik der kath.-theolog. Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz. Er lud mich zu seiner Lehrveranstaltung zum interreligiösen Dialog an einem Freitagnachmittag ein, um mit ihm über das Judentum zu diskutieren. Gerne sagte ich zu und schlug vor das an einem 24.12. zu machen, wenn der denn auf einen Freitag fiele. Da hätte ich nämlich nichts vor.

Otto König verstand sofort. Wie hatte er einen Juden am Erev Shabbat, dem Vorabend des zweithöchsten Feiertags der Juden zu Arbeit einladen? Es war eine unsensible Art den interreligiösen Dialog zu starten. Mich zu einer schweren Sünde einzuladen, zu einem Verstoß gegen die Gesetze meiner Religion – schandbar. Otto, den ich viel später mit dem Vornamen ansprach, war an sich sensibel gegenüber anderen Religionen. Er kannte sich bei Protestanten, bei anderen christlichen Religionen gut aus, er war geschult in Hinduismus, akzeptierte Religionen ohne Gott, aber bei meiner Einladung hatte er etwas übersehen.

Die Lehrveranstaltung wurde einmalig meinetwegen an einen anderen Tag verlegt. Die katholischen Christen hatten am 24.12. was vor. An sich komisch, da der 24.12. mit großer Wahrscheinlichkeit nicht der Geburtstag jenes Juden aus Galiläa war, den sie als den Gesalbten, als Sohn Gottes bekennen, als Teil ihrer Gottheit.

Fragen in der ersten Lehrveranstaltung an der Theologie waren zum Beispiel, ob Juden Jesus als Gott bekennen; ob Juden alles essen und wenn nicht warum; ob die Speisegesetze nicht unnötig sind, da doch alles in der Natur von Gott geschaffen ist (wie es im Neuen Testament bei der Stelle zur Erleuchtung Petrus in Jaffa steht) und ob ich freiwillig Jude bleiben wolle? Ich habe das als sehr lustig empfunden. Schon die Umbenennung von Altes Testament auf Hebräische Bibel war den Student*innen schwer. Sie waren es gewohnt die Hebräische Bibel als Teil ihrer Überlieferung zu sehen. Locker und geschmeidig setzten sie sich über die Frage hinweg, dass sie zwar den Juden die Auserwähltheit vorwarfen, aber in der Osterliturgie um die Aufnahme in den Kreis der Auserwählten baten. Ebenso waren sie überrascht, dass der Grund für die Beweglichkeit des Osterfests im Mondkalender des Judentums lag und dass Juden kein bewegliches Fest in ihrem Sonne-Mond Kalender haben.

Selbst der Ausdruck: „Das Judentum stellt die Wurzel des Christentums dar“, erschien ihnen judenfreundlich. Dass Wurzeln unter der Erde sind und ein Baum wegen seiner Blätter, seines schönen Wuchs aber niemals wegen seiner Wurzeln gelobt wird, kam ihnen nicht in den Sinn.

Otto und ich schlossen an unseren ersten Versuch eine Reihe von interreligiösen Lehrveranstaltungen an. Es freute uns mit den Student*innen zu diskutieren, unsere Veranstaltung hatte bald eine Stammkundschaft von etwa 30 Personen, andere Seminare wurden an dieser Fakultät nur von etwa 5 -10 Student*innen besucht. 

Eines Tages erreichte mich ein Schreiben des Dekans und vormaligen Rektors Maximilian Liebmann der KFUG: Ich müsse zur Kenntnis nehmen, dass ich für die Arbeit an der Theologie kein Honorar mehr bekäme. Ich schmunzelte. Ich hatte nie einen Groschen, heute würde man Cent sagen, bekommen. Das schrieb ich dem hohen Herrn. Er lud mich voller Schuldgefühle, aber im Bewusstsein seiner Überlegenheit zu einem Imbiss ins Parkhotel ein. Da wir nach 15 Uhr verabredet waren, gab’s nur mehr Schinkenbrot. Das wurde bestellt. Ich schlug Spectabilis vor doch ebenfalls sündig zu werden, wie er es anscheinend von mir verlangte. Er löste sein Versprechen ein: bei der Relativierung des Hostienwunders in Wolfsberg unterstützte er mich gegenüber dem Bischof der Diözese Graz-Gurk Egon Kapellari. Eine Tafel neben dem Hostienstein zeugt heute von unserem Engagement. Das Hostienwunder wurde als antijüdische Propaganda der Kirche entlarvt. 

In der Lehre gab‘s viel Nettes: Wir diskutierten ob die Mauern von Jericho unter dem Posaunenschall einstürzten; wir besprachen den Unterschied zwischen Taufe und Beschneidung und anderes mehr. (Ich stellte fest, dass Theologen die körperliche Verletzung der Knaben als bedeutender einschätzten, als den „Verlust der Seele“, der durch die Art entsteht wie der Bund mit IHM geschlossen wurde. Komisch war’s dennoch. Statt sich der Frage zu stellen, wieso das Kind den Bund mit Gott bei ihnen vor der Erreichung der „freien Entscheidung“ eingeht indem es getauft wird, fanden sie es schlimm, dass das Kind bei Juden beschnitten wird ohne „einverstanden“ zu sein. Ihres war ihnen selbstverständlich, das Jüdische klarerweise nicht.)

Wir hatten viele lustige Momente: Auserwähltheit, Beschneidung, die Feste im Jahreszyklus, die Pflichten eines Christenmenschen im Vergleich zum Juden; das Versprechen der unmittelbaren Auferstehung versus einem Allerhöchsten, der nichts verspricht; der Handel mit Gott in vielen Gebeten der Christen indem gutes „Benehmen“ angeboten wird, um Seligkeit zu erlangen gegenüber den Gebeten der Juden, die Gott an Seinen mit dem Volk geschlossenen Bund erinnern; der christliche Gott der als Allgütig, Alliebend und Allwissend beschrieben wird und der deshalb einen „Teufel“ braucht, um seine Adjektive verteidigen versus einem jüdischen Gott, der die Menschen liebt und straft und das nicht nur mit Sintflut und Vernichtung wie in Sodom und Gomorrha – vieles, was den Student*innen selbstverständlich erschien wurde relativiert.

Ein Einfall beendete meine Tätigkeit an der kath-theolog. Fakultät: wir wollten gemeinsam auf den Spuren der hebräischen Bibel wandeln. Zum Schilfmeer, zum vermuteten Berg Sinai an dem die Zehn Gebote gegeben wurden und heute ein Katharinenkloster steht an dem Seine Heiligkeit Papst Johannes Paul II. gemäß A. Englisch eine Erleuchtung hatte, bis ins heutige Israel. Die Tour sollte in Jerusalem enden (wo sonst.) Als „Aufpasser“ und Organisator wurde mir ein junger Theologe zugeteilt, der alle meine Vorschläge ablehnte. Zum Teil erschien es ihm zu gefährlich, zum Teil wollte er nicht zu tief in das Judentum eindringen, vielleicht wegen der Angst vor der Judenmission (Eine der Ängste der Kirche, dass Menschen, wenn sie das Judentum kennen lernen, zu ihm konvertieren.). Die Vorbereitungen endeten als Israel in einen begrenzten Krieg eintrat. Eine Reisewarnung des österreichischen Außenministeriums tat ihr übriges: Die Reise wurde abgesagt. 

Später spendete Konsul Kurt D. Brühl eine Professur für jüdische Theologie, die Nachfolgerin – I. Fischer – des Lehrstuhls für alttestamentliche Bibelwissenschaften machte vor allem Genderwissenschaft – Ottos und meine Versuche endeten. Wir bekamen beide das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst verliehen. Es hätte schlechter ausgehen können.