Wandertag

Mit meiner Tochter Anna wandern ist ein Erlebnis. Sie ist 40 Jahre und sehr fit, macht Akro-Yoga und Übungen. Ich fühle mich auch fit, kann aber nicht mithalten. So lieb wie sie ist, sagt sie ich soll mich nicht vergleichen, es führe nur zu Depressionen. Wir fuhren ins Anaga Gebirge, nach Chinamada das letzte Höhlendorf Teneriffas, stiegen nach Hidalgo ab und beendeten die Wanderung am Mirador Aguaide.

In aller Früh Aufbruch. Das klingt einfacher als es ist. Die dreizehnjährige Enkelin Mia-Fe, gute Schülerin, steht in der Früh schwer auf, sie kommt im letzten Moment in die Küche. Dann fand sie mein neues Auto nicht, man suchte, fand, raste zur Schule – es war Montag morgen und sie kam zum Turnunterricht zu spät. Große Katastrophe, alle außer ihr sind schuld. Sie gehe nie mehr in die Schule, sagt sie. Gut, abgegeben, wir sprechen nicht mehr davon. Dann ein köstliches Frühstück in einem Kaffee in Tacoronte: Kaffee mit Kaffeeobers (Cortado leche, leche) zweimal und ein Palmblatt, danach eine Semmel mit Schinken, Käse, Tomate und Salat. Danach noch einen kleinen Witz: ich kaufte eine weiße Schaumtorte mit Meringuez darauf, angeblich war Eiskreme drin. Anna stöhnt. Man kann das doch nicht den ganzen Tag im Auto lassen.

Ab der Abfahrt ins Anaga Gebiet gibt’s eine kleine Alpenstraße. Der erst tags zuvor ausgeborgte BMW 1 Kombi, schafft das wunderbar. Wir fahren durch das Tal, kommen nach Chinamada und kehren in das Restaurant la Cueva ein. Allerdings sind wir nicht hungrig. Da wir oft hungrig sind und nicht essen, essen wir diesmal ohne Hunger. Anna nimmt Salat und Zickleinfleisch mit Pommes frittes, ich einen Pulpo mit patates. Das Beste ist der Salat, obwohl er dort nicht wächst, es ist zu hoch und der kühle Wind vom Meer erzeugt ein Alpendorf. Die Häuser sind in den Berg gebaut, ihre „Dächer“ sind in hellen Farben gestrichene vulkanische Flächen. Aus dem bewohnten Berg stehen Schornsteine heraus, die Bewohner*innen tragen die Zeichen schwerer Arbeit: Ihre Beine sind geschwollen, die Arme und Hände haben Narben aller Art, die Gesichter verschlossen. Ein angeketteter Hund bellt von gegenüber. 

Wir brechen auf, nehmen den Weg abwärts. Eine Tafel sagt: 90 Minuten bis Hidalgo. Der Weg wird im Wanderführer als sehr schwierig beschrieben, man soll schwindelfrei sein und gut zu Fuß. Wieweit ich das bin, weiß ich nicht. Wir gehen. Es ist eine ausgesetzte Landschaft, Schluchten sehen wir gegenüber, über uns der Vulkan mit allen Arten von Gestein. Schwarz, hellbraun, der Wind hat Höhlen geformt, der Mensch hat sie befestigt. Wir gehen, reden, bewundern die Landschaft – Anna übersteigt manchmal Absperrungen und macht Fotos am Abgrund hockend. Ich soll mich nicht fürchten.


Nach zirka einer Stunde habe ich genug vom Abstieg. Das Ziel die stürmische Meeresbucht reizt mich nicht und ich gehe nicht gern zuerst bergab und dann wieder rauf. Anna wäre noch gern eine Stunde gegangen, hätte den Leuchtturm erreicht. Eine philippinische Touristin geht an uns vorbei. Anna fragt sie wie lange es noch bis ins Tal dauert. Sie sagt: „1 ½ Stunden.“ Und, will Anna wissen, wie lange dauert es hinauf: „1 ½ Stunden“ ist die freundliche Auskunft. Anna sagt, dass sie das nicht glauben kann. Es ist auch nicht so. Es ist nur die freundliche Auskunft der lachenden Ostasiatin, die eine gute Mischung aus mehreren Rassen in ihrem Gesicht trägt. Wie dem auch sei, ich will nicht nach unter und daran denken müssen, wie ich wieder hinaufkomme. Anna rät mir nicht daran zu denken – leichter gesagt als getan. Also gut, Anna nimmt Rücksicht wir gehen in der Mitte angekommen wieder hinauf. Nehmen im Restaurant noch einen Kaffee, Anna ein Bier – ein leichter Regen beginnt, Wolken kommen vom Meer hinauf und bedecken den Weg völlig, den wir im strahlenden Sonnenlicht gegangen sind. Wir haben Sonnenschutzmittel benutzt, jetzt wären wir in Bergnot. Wir müssen noch durch Chinamada zum Auto. Bis wir ankamen waren wir durchnässt. Die Straße nach La Laguna ist mit Steinen, Zweigen und den Früchten der Bäume übersät, meist rinnt das Wasser in den Seitenkanälen der Straße ab, die überall vorhanden sind. Manchmal sind diese offenen Kanäle überfordert oder verstopft und dann fließt das Wasser über die Straße. Das relativ schwere Auto überwindet diese Hindernisse mühelos, Anna ist als Fahrerin angespannt und fragt mich: „Würdest Du langsamer fahren?“ Ich darauf: „Schneller!“ Wir lachen.

Nach zwei Essen, Wanderung, Auf- und Abfahrt gehen wir in Las Lagunas shoppen im Regen. Die Kirche ist eine pompöse Kathedrale, wir kommen vor Sperrstunde als letzte rein, die Muttergottes ist eine regina coeli mit Kind, ein Bild zeigt das göttliche Gericht, die Verdammten stehen zuunterst im Höllenfeuer, die Darstellungen Gottes, Jesus, Maria und Josef sind im Halbdunkel kaum erkennen. Sie sind zu weit oben.

Da es kalt und nass ist werden Hosen, Schuhe, Jacken gesucht. Ich finde eine wattierte Jacke in Jägergrün mit passendem Hemd, alles ist im Ausverkauf, keine Touristen, drohender lock-down und black Friday. Das Hemd quasi geschenkt.

Stunden ziehen wir durch die Gässchen der Altstadt, beide sind wir überzeugt, dass man Einkaufszentren nicht unterstützen dürfe. Hier ein Orangensaft, dort probiere ich eine Hose, die mir um den Bauch zu eng und bei den Beinen zu lang ist. Anna findet ein Geschäft mit einem eleganten, italienisch wirkenden Mann und seiner aparten Frau: die Jeans und der Pulli sind exakt was sie gesucht hat. Sie schaut toll darin aus und sonnt sich in meinen und seinen bewundernden Blicken.

Sturm und Regen – nichts kann uns aufhalten. Noch Stifte für Mia an die Anna fortwährend denkt. Diese ruft an, weil Anna ihre Bildschirmzeit limitiert hat. Sonst käme sie vielleicht ohne sie aus. Mia spricht mit ihren Schulkollegen aus Wien, spielt mit ihnen auf der Konsole Fortnight. Das Telefonat mit dem Austausch von Bildern aus dem Papierladen damit das Richtige gekauft wird, dauert lang. Als Abendessen nehmen wir Churros mit Chokolata. Vielleicht wäre es lustiger gewesen ein Glas Vino tinto zu trinken und Tapas zu essen, aber auch so sind wir müde genug und die Fahrt durch die stürmische Nacht kritisch. Ich fahre angeblich zu schnell. Das stimmt nicht, ich halte mich an die Geschwindigkeitsbeschränkungen, wir überholen allerdings fast alle anderen Autos: „BMW raushängen lassen?“ sagt Anna.