Hirntumore - Craniopharyngeom

Hirntumore sind die Angstgegner des psychosomatisch tätigen Arztes. Denn niemand wird böse, wenn ein Onkologe (Krebsspezialist) die psychische Befindlichkeit eines Patienten falsch einschätzt. Sogar, wenn sich der/die Patient*in in der Folge das Leben nimmt, wird das als Schicksal und nicht als Fehler des Arztes angesehen. Anders ist es bei einem Hirntumor. Obwohl die Behandlung bei vielen ein großes Problem ist und verstümmelnde Operationen zu großen Defiziten führen können, wird das Übersehen sehr streng beurteilt.

Mein Leben als Arzt ist von vielen Hirntumoren begleitet. Im Studium habe ich die Neurologieprüfung bei Prof. Reisner nur deswegen geschafft, weil ich das sehr seltene Craniopharyngeom kannte, das mich später oft beschäftigen sollte. Das Craniopharyngeom ist eigentlich kein Hirntumor, sondern ein Geschwür der obersten Schlundtasche, die wir in unserer Entwicklung den Amphibien verdanken. Denn unsere Entwicklung zeichnet im Grunde die Entwicklung der Biologie nach: zuerst sind wir wie ein Bakterium, dann Fische, Amphibien, bis wir zum Zeitpunkt der Geburt ein zwar unreifer, aber lebensfähiger Landbewohner geworden sind. 

Das Geschwür wächst aus dem ehemaligen Hals (eigentlich dem Hals des Frosches) in das Gebiet der Hirnanhangsdrüse (in den Türkensattel) und verdrängt, oder zerstört lebenswichtige Organe der Hirnanhangsdrüse und den Sehnerv. Später lernte ich den österreichischen Spezialisten für diesen Tumor (UP Dr. M. Mokry) kennen, der es zuwege brachte mithilfe eines HNO-Arztes diesen Tumor schonend durch die Nase zu operieren.

Mein erstes Kind, das ich mit dieser Erkrankung kennenlernte, war Stefan. Er war dreimal im Schädel operiert worden: zum ersten Mal sehr schonend, beim Rezidiv wurde zwar den sogenannte Schläfenlappen hochgeklappt und änderte Stefans Sprachentwicklung, beim dritten Rezidiv war entweder das Hunger-Sattheitszentrum vom Tumor oder der Operation zerstört worden. Stefan kam von der Kinderpsychiatrie des Landesnervenkrankenhauses an die noch in der Infektionsabteilung der Kinderklinik gelegene psychosomatische Station. Er war 1986, 11 Jahre alt, wog 112 Kilogramm bei 120 Zentimeter Körpergröße. Darüber hinaus hatte er eine Tag-Nachtumkehr, das heißt er schlief tagsüber und war nachts wach, wie ein nachtaktives Tier. Die Familie wurde aufgeklärt, dass Stefan nicht dauernd essen dürfe, wenn er wach war. Das war unmöglich. Stefans Hunger war so ursprünglich, so stark, dass er Türen aufbrach, und alles aß was essbar schien. Als die Familie (Eltern und zwei Geschwister) beschloss die Speis und die Küche zu versperren, biss Stefan seiner kleinen Schwester ein Stück Fleisch aus dem Gesäß. So kam er an die psychiatrische Abteilung.

Stefan wurde auf Neuroleptika eingestellt, die keinen Effekt hatten, außer dass er tagsüber noch mehr schlief. Als nichts mehr half, schickten sie ihn mir/uns.

Wir beschränkten Stefans Essen nicht. Er konnte nachts so viel essen, wie er wollte. Das führte zu einer starken Gewichtszunahme. (Viele Jahre später kam ein Medikament auf den Markt, das den unstillbaren Appetit dieser Kinder löschte. Leider wurde es von Menschen benutzt, die einfach dick waren. Manche davon waren auch depressiv. Da das Medikament den Hunger verhinderte, die Lust zu essen beendete, fiel das Letzte weg, das diese Menschen hatten. Einige brachten sich um. Das Medikament wurde vom Markt genommen – die schwerkranken Kinder hatten wieder keine Hilfe mehr.) 

Eimal hatte ich Nachtdienst. Stefan war wie jede Nacht wach. Er wollte mit mir baden. Wir hatten eine Badewanne auf Station, da es Jahre früher Pflicht war die Kinder vor der Entlassung „abzubaden“. Erst dann durften sie – von den Keimen gereinigt – nach Hause gehen. Wir ließen ein Bad ein. Stefan und ich zogen uns aus. Stefan leerte eine ganze Flasche desinfizierendes Schaumbad in das Wasser. Er kam nicht ins Wasser. Er wusch mich. Ich wurde so gründlich geseift und desinfiziert, dass sich meine Haut tagelang wie Papier anfühlte. Stefan wusch und wusch, das Bad schwamm, die diensthabende Schwester kam nicht herein. Dann biss mich Stefan ins Ohr, ein eindeutiges Zeichen, dass er dringend essen wollte.

Ich war empört. Es ging mir so wie dem seinerzeit berühmten Prof. Pollak von der Wiener Psychiatrie, der seinen Erfolg bei einem vom ihm betreuten Paranoiker dem Chef vorführte. Der Paranoiker erkannte Pollak , der fragte: „Gell, alle wollen Sie vergiften?“ Darauf der Patient: „Sie am allermeisten!“

In meiner Vorstellung war ich der Gute, so wie Pollak. Ich hatte mit Stefan die Nacht verbracht, ihn alles machen lassen, was er wollte und nun das. Er biss mich zum Dank ins Ohr. Ich war verletzt, empört und wusste, dass der Spott der Schwester („Ich hab’s ja gleich gewusst – das konnte nicht gutgehen!) bis hin zu den Kolleg*innen vernichtend sein würde.

Wir konnte Stefan nicht helfen. Das wirksame Medikament gegen Hunger (Rimonabantwar noch nicht am Markt. Viel später verwandten wir es ein paar Jahre bis die psychischen Nebenwirkungen bei vielen Menschen die Verfügbarkeit des Medikaments leider beendeten. Klassische psychiatrische Medikamente halfen Stefan nicht. Er wurde substituiert, das heißt die Hormone die die bei ihm fehlende Hirnanhangsdrüse produziert wurden ersetzt. Dabei auch das antidiuretische Hormon, das damals mittels eines Röhrchens mit dem netten Namen Nasüle in die Nase gegeben wurde. Sonst hätte man es injizieren müssen, was geheißen hätte Stefan zweimal am Tag am Tisch im Eingriffszimmer festzuhalten. Kam das Hormon in den Magen wirket es nicht, weil es verdaut wurde (Später zeigten wissenschaftliche Studien, dass man es doch als Tablette verabreichen konnte: man musste nur die vielfache Dosis nehmen.) 

Unverrichteter Dinge schickten wir Stefan wieder zurück in die Kindersychiatrie, da die Familie sich weiterhin weigerte ihn zu Hause aufzunehmen. Monate später, es war Herbst geworden, erfuhren wir, dass ein Schnupfen an Stefans Tod schuld gewesen sein soll. Die Aufnahme des antidiuretischen Hormons durch die Nasenschleimhaut war behindert, die Kolleg*innen hätten die Elektrolyte exakt kontrollieren müssen, dann hätten sie gemerkt, dass Stefan entgleiste. Stefan war die Nacht über im Netzbett, tagsüber schlief er. Wenn die Kolleg*innen im Dienst waren schlief er, nachts wurde er eingesperrt. Er schlief wegen des Schnupfens und dem enormen Flüssigkeitsverlust mehr, was auf die psychiatrische Medikation zurückgeführt wurde, die die Tag-Nachtumkehr behandeln sollte. So starb Stefan.

Ich erinnere ihn so, wie er mit 11 Jahren war. Ein lustiger und fröhlicher kleiner, dicker Junge mit Narben am Kopf, der mich zum Baden nach Mitternacht einlädt und wäscht. Nicht immer kann man helfen. Das ist auch ein Teil von schlau und wendig: Ich erinnere ungern, aber genau mein Versagen als Arzt und Mensch. Ich kann nicht einmal sagen, dass ich daraus gelernt habe, denn ich beschäftigte mich immer wieder mit Patienten, die an dieser Krankheit litten – leider immer erfolglos.