Samstag, 18.1.2020 - Seetag 

Wunderbarer Shabbat! Ausschlafen bis 07:30, dann aufs Deck und ein etwas verspäteter Sonnenaufgang. Eigentlich keiner: Die Sonne war nur hinter einer zweizipfeligen Wolke versteckt, so dass ihre Strahlen hinauf und hinunter wiesen. Das kann man aber durchaus als Morgensonne bezeichnen. Danach habe ich mich 20 Minuten aufgewärmt, bin also am Deck 10 spazieren gegangen. Das Deck 10 kennen Sie ja noch nicht, liebe Leser*innen.

Wenn man in der Mitte des Schiffs nach steuerbord geht, kommt man in den umzäunten Club Squok. Der ist für Kinder, aber Kinder gibt’s auf der Reise fast keine. Vielleicht fünf – zehn. Auf der anderen Seite des Schiffs ist die Sicht nach vorne mit Glasplatten gesichert. Man könnte meinen, dass das fein ist, wenn man zum Beispiel bei den Säulen des Hercules rausschaut. Aber da sie zur Reling hin einen Schlitz haben, ist die subjektiv empfundene Windgeschwindigkeit erhöht und um richtig hinter dem Glas zu stehen, bin ich zu klein. Marguerite sagt, dass ich mich mit meiner Größe aussöhnen soll, leicht gesagt. Bei seinem Vortrag sagte Scopelliti, dass die zwei Längsbalken im Dollarzeichen die Säulen des Hercules seien – eine Legende, die die Spanier gepflegt haben, um alle Konkurrenten daran zu hindern aus dem Mittelmeer hinaus zu fahren. Ich bleibe bei meiner Interpretation, dass die Säulen am Dollar die Stäbe der Lictores darstellen sollen. So geht’s Symbolen: jeder interpretiert in sie hinein, was er sieht und sehen will.

Anschließend gehe ich zu Devin, meinem personal Trainer. Devin ist 24 Jahre alt, so wie mein jüngster Sohn Noah. Er war – so wie mein Trainer bei der letzten Reise Zurab – Fussballer in Italien bei einem Club der Regio Calabria. Mit 21 war er als Mittelfeldspieler in der Kampfmannschaft. Als man ihn unversehens in die 2. Mannschaft abstufte, kündigte er, ging nach Rom und studierte Fitness- und Gesundheitstrainer. So ist er nachträglich irgendwie froh, dass er schlecht von seinem Verein behandelt wurde. Im Herbst bekam er ein Angebot von Costa. Er ist zum ersten Mal auf einem Schiff, er reist gern, aber er wird das nicht noch einmal machen, so sagt er bereits nach zwei Wochen an Bord. Das Essen, die viele Arbeit, die Zweierkabine unter Deck – das ist nichts für ihn. 

Wir machen Circuittraining. Sehr schwer für mich: Bauch (quere sit-ups), Schulter, Liegestütz, Kniebeugen und vieles mehr. Nach dem ersten Mal hatte ich drei Tage Muskelkater, heute hat er die Gewichte von acht auf drei Kilo reduziert. Ich schwitze, schnaufe und stöhne, benutze Muskeln, die ich schon lange kaum begrüßt habe (wie den M. obliquus abd.) lächle und bin über die mich überall begegnende und verachtende Französin verwundert. Sie kommt in den Raum und will mit einer zweiten Dame Dehnungs- und Kraftübungen mit ihrem Theraband machen. Sie wird rausgeschickt, geht, kommt schimpfend zurück und macht, was sie machen will. Es ist scheint’s nicht einfach als schöne und so bewegliche Frau alt zu werden und an den Unterschenkeln große dunkle Flecken zu haben. Als ich sie beim Tangotanzen mit einem jungen Mann sehe, den sie quasi unterrichtet, habe ich das erste Mal keinen Ärger, sondern Mitgefühl. Halt – das stimmt nicht ganz: bei der letzten Kreuzfahrt verlor sie knapp gegen die eine empfindsame Dame, die zehn Jahre älter ist und mit dem 60 Jahre jüngeren Tiago aus dem Tanzlehrerteam ein berührendes Duo gezeigt hat. Die alte Dame war ein junges Mädchen, die auf einem Bänkchen unterm Baum saß und von Tiago zum Tanz verlockt wurde. Anmut, Alter, Jugend und die Zeitlosigkeit des Gefühls kamen zusammen und erzeugten drei Minuten lang freudige Betroffenheit. Die Französin verlor, weil sie eitel ist, selbstsüchtig und die Herzen nicht erobern kann. Die andere ist diesmal leider nicht mit.

Was für ein Frühstück im 2. Stock, Speisesaal: pochierte Eier auf Muffin vom Kellner gebracht, darauf leider reichlich Mayonnaise. Lustig, fein, ich esse ein Marmeladebrot dazu – passt nicht, macht aber Spaß. Danach esse ich sogar noch ein hartes Ei und ein Pain au chocolat. Hier werden solche Dinge als „Sünde“ bezeichnet, alle Alten kämpfen angesichts des großen Angebots gegen das Zuviel. Meine Sünden sind ganz anderer Art zum Beispiel gegen viele Shabbatregeln, die ich heute übertreten habe. Dagegen ist das Essen von Süßem nicht schlimm.

Der Tangokurs ist fein. Ich kapiere wenig, vor allem auch weil der Lehrer oft sagt: „Es ist ganz einfach.“ Das sagt er auf italienisch und englisch und für mich stimmt’s beide Male nicht. Da mir die Musik nicht hilft Erinnerungen aufzubauen, schaue ich so furchtbar wie der Deutsche aus, lächelnd, selbstbewusst und unerträglich. Siehe oben. Marguerite ist sehr gut und sagt tatsächlich: „Ich schleppe Dich jetzt zu jedem Kurs,“ was sie schon heute nicht eingehalten hat. 

11:15 Empfang beim Kapitän: schlechte Getränke, es sollte ein Bellini sein, aber weder der Pfirsichnektar noch der Spumante waren gut. Nette Vorstellung der obersten Offiziere durch den Cruisedirector; ein gewandter Kapitän, ein gutes Foto mit ihm und zum Abschluss ein Tänzchen zu Helene Fischers Atemlos mit einer fünfundzwanzigjährigen Ungarin vom Plattensee, die auf hochhackigen Schuhen so groß war, dass ich das Puder mit dem sie ihr Dekolletee geschminkt hatte, riechen konnte. Zwei Zwerge machten es mir nach: Alfred und der Immobilienheini aus Wien-Donaustadt. Wir alle genossen die junge Frau und machten uns ziemlich lächerlich. Besser lächerlich, als sich nur sehnen.

Komisch, immer, wenn ich viel esse, esse ich mehr. So auch heute: für mich überraschendes Mittagessen im 10. Stock. Keine Musik. Das ist das beste. Gute Vorspeisen: Lachs auf Mayonnaisesalat, grüner Salat, Spaghetti mit Tomatensauce, Lammkeule auf Pommes Dauphin und als Abschluss Zitronensorbet. Dazu drei Gläser Wein, zwei Rose und ein Rotwein – alle aus Sizilien. 

Siesta.

Danach Whirlpool in der untergehenden Sonne mit Alfred und Jaqueline, dem Ehepaar aus Wien. Alles wird dort besprochen: Urlaubsquartiere in Uruguay, Bauprojekte in Maria Taferl, Hochzeitsplanungen für die Kinder, aber auch Pläne für diese Reise. Im Whirlpool ist leider so viel Chemie drin, dass die Haut von den fast zwei Stunden ganz kaputt wird. Ich dusche nachher und creme mich ein (beziehungsweise cremt mir Marguerite liebevoll und gar nicht gern den Rücken ein) und trotzdem erwache ich in der Nacht, weil mich der Rücken juckt. 

Nach dem Schreiben gehen wir sogar noch Abendessen. Peter, ein reicher Berner hat sich mit seiner Frau Anneliese zu uns an den Tisch gesetzt. Sie waren an einem Tisch mit einem deutschen Ehepaar. Ich hatte den Eindruck, dass sie harmonieren, aber die mit mir gleichaltrigen Deutschen geben sich auf jung, vor allem die Frau, die groß ist, mit langen Haaren und einem perfekten Körper tanzt und sich in jedem Kurs bewegt. Das war nichts für Peter, den ich oft Walter nenne. Peter und Anneliese verbringen jedes Jahr sechs Monate auf Reisen und Peter ist gegenüber der Art des organisierten Reisens am Schiff zumindest skeptisch. Er will spätestens in Singapur das Schiff verlassen („Mit den Meilen bekomme ich ein kostenloses Businessclassticket.“), aber heute Abend ist er in Rehabilitation nach seinem bakteriellen Infekt der Luftwege, trinkt keinen Alkohol und isst Spaghetti mit Tomatensauce. Ob das der Genesung hilft – ich bin skeptisch. Seine erste Frau starb vor 12 Jahren und er findet, dass es ein großes Glück war, dass er Anneliese kennen gelernt hat. Sie ist Mutter zweier Söhne und erwartet ihr erstes Urenkerl in wenigen Tagen. Bei der Geburt des ersten Sohns war sie 19. Geburtserlebnisse und -erinnerungen werden ausgetauscht, beide Frauen am Tisch und Vreni vom Nachbartisch erinnern die erste Geburt als: „Da hab‘ ich geglaubt ich sterbe“. Wir Peters können da wenig beitragen. Anneliese ist in den letzten Jahren zum ersten Mal im Leben Hausfrau und genießt Haushalte in Bern, München, am See und das viele Reisen. Das Ehepaar ist immer sechs Monate unterwegs, wie Peter sagt: „Verschieben können wir jetzt nichts mehr!“ Er ist 1943 geboren und schaut blendend aus. Nur während des Infekts war er sehr blass.

Etwas läuft schlecht: Marguerite wird nach ihrer inneren Uhr müde, gähnt ununterbrochen. Ich bringe sie ins Zimmer und will noch in die Bar gehen. Wir haben mittags fast zwei Stunden geschlafen, wenn ich um 23 Uhr ins Bett gehe, bin ich um vier Uhr wach. Aber ich sitze voll bekleidet am Sofa, M. hat das Fernsehen eingeschaltet, wie sehen die Lebensgeschichte Tolkiens und ich schlafe ein. Es kommt wie vorausgesehen: um vier Uhr bin ich hellwach. Es gönnt mir noch einen schönen Traum, in dem ich eine unvollendete Begegnung mit einer Kollegin aus der Klinik habe, nicht älter als dreißig Jahre alt bin, Dandy und Clochard in einem, praktisch in meinem Cabrio lebe. Gefühl hat eben keine Zeit, nicht nur im Herzen bleibt man immer jung. Am 19.01. ist der letzte Seetag vor Barbedos, Rückengymnastik ist nur eine der Angebote, die ich wahrnehmen will. Mal sehen, stay tuned, dann wissen Sie bald mehr.
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