Freitag, 7. Februar 2020 - Seetag 2 zwischen Valparaiso und der Osterinsel

Die guten Vorsätze

Man sagt: „Mit guten Vorsätzen ist der Weg in die Höllen gepflastert!“ Man sagt das zumeist rund um Neujahr, wenn sich die Menschen etwas vornehmen: abnehmen, generell weniger essen, mehr Sport, oder eine andere Änderung ihrer Lebensgewohnheiten.

Ich nehme mir am Schiff vor entweder weniger zu essen oder weniger Alkohol zu trinken. Manches gelingt: ich trinke keinen Drinks, keine harten Getränke und kein Bier. Manches misslingt: ich nehme beim Essen Wasser und hoffe dabei zu bleiben. Wenn allerdings Wein angeboten wird, werde ich schwach.

Wozu nehme ich mir etwas vor, das mir nicht gelingt? Was ich ändern will, ist für Marguerite leicht. Sie mag keinen Wein, sie verträgt ihn nicht gut. Ihr gelingt es kein Brot zu nehmen, kein Weißbrot zu essen, aber sie wird zum Beispiel bei den Senffrüchten und dem Käse schwach. Dort sollte sie sich nichts vornehmen. 

Da sie verletzt ist, ist für sie regelmäßiger Sport unmöglich. Es schmerzt, wenn sie sich bewegt, vielleicht behindert es sogar die Heilung der Rippe. Das ist bei mir das anders: die Bewegung gelingt auch, wenn mir nicht danach ist. Nach dem Aufwachen um ½ 7, oder 7, überlege ich ob ich an Deck gehe, oder mich noch einmal niederlege. Die Entscheidung ist leicht. Der Wind auf Deck 11, das Hellwerden, die Sonne ist manchmal durch Wolken verdeckt und ich sehe das Erröten der Wolken im Westen – das Morgenfreuden. Mein Überlegenheitsgefühl, weil von den anfangs ungefähr 10 Mitreisenden keine*r mehr in der Früh am Deck Runden geht und allein, oder wie heute zu Dritt, gehe kommt hinzu. Danach schwitze ich im Gym am Hand- und Fahrrad. Nach zirka 90 Minuten fühle ich mich stark, schlank und froh. Das klappt.

Heute war der Vortrag des Professors für Archäologie Carlo Scopelliti um ½ 10: „Wer entdeckte Amerika?“ Er hat Theorien, die allem widersprechen was ich gelernt habe. Bei ihm findet die Besiedelung Amerikas vor 70.000 Jahren statt. Dass es eine ausschließliche Besiedelung über die Beringstraße vor etwa 5-6000 Jahren gegeben haben soll, weist er zurück: Bei vielen Artefakten, von denen er Dias zeigt, sagt er: „Man weiß nicht, ob das eine Fälschung ist.“ Er kann Umlaute nicht aussprechen, so er: „Falschung“ sagt. Er spricht zuerst in Deutsch, anschließend in Französisch und zuletzt in Englisch am selben Tag. Spanisch und Russisch macht er am nächsten Tag. Manchen seiner Inhalt erinnere ich von vor drei Jahren, manches ist neu, bisweilen nicke ich kurz ein. Scopelliti endet damit, dass eine Entdeckung nur dann eine ist, wenn man es erzählt, wenn es die Katheder der Wissenschaft erreicht. Das erscheint mir ziemlich konstruktivistisch, dass etwas erst existiert, wenn es wahrgenommen und tradiert werden kann. So erzählt er wie Ch. Columbus vom Papst  unterstützt wurde. Wer Scopelltiti kennt weiß nun: Amerika wurde also von Rom entdeckt. Scopellitis Welt beginnt und endet in Rom, dem Zentrum der seiner Welt. Wie ich gelernt habe: Alle Wege führen nach Rom.

Manche Vorsätze funktionieren: In der Gelateria esse ich kein Eis, obwohl es lecker aussieht. Zum Frühstück nur mehr dunkles Brot. Tee ohne Zucker, das aber seit Jahren.

Nur der Wein, der Wein, der mir bei jeder Mahlzeit angeboten wird, dem kann ich nicht widerstehen. Jetzt kommt aber die wesentliche Frage: Wozu auch? Was wäre besser, tränke ich keinen Wein? Gestern ist es mir gelungen. Ich war dann nach der Siesta frischer, als heute. Wacher. 

Das stimmte aber dann auch in der Nacht. Es war Country Night. Ich trug ein Countryhemd mit roten und blauen Karos, eine dunkelblaue Hose im Jeanslook und blaue Schuhe. Edelcountry könnte man das nennen. Beim Abendessen saß ich neben Vreni, die ein rotes Halstuch hatte und wir freuten uns an unserer Verkleidung. Vreni und Sepp gehen immer nach dem Essen schlafen. Peter und Annemarie sitzen noch ein bisschen herum, tanzen aber nicht. Marguerite mag Countrymusik nicht und ich kann nicht tanzen. Leider ist dieser Befund definitiv. Also gehen wir ins Zimmer. Wozu habe ich mich dann schön gemacht?

Da ich kaum Wein trank, erwachte ich in der Nacht, die Beine zogen, wollten bewegt werden und ich muss aufstehen. Ist das besser?

Letzte Nacht erlebte ich Heldentaten im Traum. Ich rettete Kinder vor wiederholter Misshandlung, machte Nachtdienste und war ein Held. Nur bin ich das leider nicht mehr. Ich bin kein Held mehr. Ich bin Kunde auf einem Pensionistenschiff, wo mehr oder weniger Alte noch ein bisschen von der Welt sehen wollen und das auf Grund ihrer finanziellen Möglichkeiten können. Da gibt’s Behinderte, Menschen mit Rollator ebenso, wie Menschen mit allen Arten orthopädischer Probleme und viele Menschen nach Krebsleiden. Da geht’s mir vergleichsweise noch gut, aber was soll’s: ich bin Teil davon.

Nein, nein, das ist nicht schlimm. Europa hat einfach zu viel Alte. Die hier befinden sich halt auf einem Schiff, über das leider von Grünen schlecht geredet wird. Beim Mittagessen bestritten wir Gerüchte: wie, dass Kreuzfahrtschiffe Schweröl tanken, oder über den Abfall, der ins Meer gespült wird (Wobei an Bord ein Meeresbiologe ist, der freigibt, was ins Meer abgegeben wird. Das Meiste sei gereinigtes Wasser, hören wir.) und die Abluftgase aus dem Schornstein werden mittels Filter gereinigt. So kommen wir im Gespräch zu den negativen Einstellungen zu Impfungen und unsere Reaktion darauf, oder auf andere, längst vergangene Heldentaten. Alle vier waren Helden in der Vergangenheit. Die Gegenwart sollen wir genießen. „Wohlverdienter Ruhestand“ heißt das. Und das soll ohne Wein gehen?

Daher: Vorsätze werden im Gewissen gelagert. Da man Gewissen nur spürt, wenn es schlecht ist, hat man mit Vorsätzen ein schlechtes. Vielleicht ist das angenehmer, als es nicht zu spüren – ich weiß es nicht. Was ich aber weiß ist: Keine*r hält sich an seine Vorsätze. Daher die Frage an werte Leserschaft: sollte ich mir besser keine machen?
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