Das Pflegegeldgesetz - Geschichte einer zähen Heldentat 

Lese ich das Kapital: „Dichten in Akten“ aus den Erinnerungen von Ernst Lothar, dann fühle ich mich verwandt, wenn auch als kleinster Bruder. Dichten in Akten nannte Ernst Lothar seine Erfindungen: Wiener Messe, Umwandlung der Exportakademie in die Hochschule für Welthandel (die heutige Wirtschaftsuniversität) und die Gründung der Salzburger Festspiele. Ich habe aus Engagement für Kinder und Jugendliche einen Teil des Bundespflegegeldgesetzes (Aufsicht und Förderung als Notwendigkeit) und einen Passus des Krankenanstaltengesetzes (Verpflichtung zur Vorhaltung einer Kinderschutzgruppe in alle pädiatrischen Krankenanstalten zur Betreuung von Kindern und Jugendlichen nach Kindesmisshandlung – bzw. missbrauch) geändert. Natürlich nicht wie E. Lothar als Hofrat in der Zentralverwaltung mit direktem Zugang zu Parlament und Minister, sondern als Provinzdoktor, der Unerträgliches ändern musste. „Wo Unrecht Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht!“ – dieses – vielleicht zu Unrecht B. Brecht zugeschriebene Zitat war Ansporn und Ermutigung.

Mein 1. Gesetz, das ich verändern musste: Pflegegeld. Es hatte sich unter Richter*innen herumgesprochen, dass ich schnell und in guter Qualität Gutachten erstellen konnte. Romana, eine Sekretärin in der Klinik, schrieb für mich und half mir mit vielen Einschätzungen, Korrekturen und Ermutigungen. Ich war Gerichtsgutachter und kam erst dran, wenn die Eltern des zu pflegenden Kindes gegen die Höhe der Bemessung der Pflegegeldstufe Einspruch erhoben. Daher ging meinen Gutachten immer ein Arztgutachten im Auftrag des Landes Steiermark voran, das Grundlage der Amtsentscheidung gewesen war.

Wie im Kapitel: „Gutachter sein“ ausgeführt, beschloss LHStV. Kurt Flecker in den neunziger Jahren bei allen Kindern und Jugendlichen die Pflegegeldstufe herabzusetzen. Dagegen erhoben viele Einspruch. So kam ich letzten Endes zu über 300 Gutachten, die ich im Auftrag steirischer Arbeits- und Sozialgerichte erstellte.

Es war klar: so konnte es nicht weitergehen. Kurt Flecker nützte eine Gesetzeslücke. Die bei behinderten Kindern entscheidenden 70 zusätzlichen zuzumessenden Stunden für Pflege,  Förderung und Überwachung von Kindern, die nicht auf sich selbst aufpassen konnten, galten seiner Rechtsauffassung nur dann, wenn das Kind 180 Stunden zusätzliche Pflege im Monat im Vergleich zu gesunden Kindern desselben Alters zuerkannt bekommen hatten. Das ist bis zum Alter von 5 Jahren fast nicht zu erreichen: gesunde Gleichaltrige könnten auch noch gewickelt und gefüttert werden müssen, sodass Pflege nur bei Verbandswechsel und Ähnlichem nötig würde. Ob Verbandswechsel Pflege ist, oder medizinische Hilfeleistung war umstritten. Eine Spitzfindigkeit jagte die andere, die Jurist*innen des Landes folgten der Order des LHStV. Flecker. Die Gutachter*innen luden die Familien vor, setzten die Pflegegeldstufe herab und warteten ob die Familie bei Gericht dagegen vorging. Erst wenn, dann kam ich ins Spiel. Ich bestellte ebenfalls die Familien, oder machte einen Hausbesuch. Ich untersuchte die Kinder, hörte mir die Geschichten der Eltern an, las die Vorgutachten und entschied. Meist wurde meinen Gutachten bei Gericht gefolgt, manchmal wurde ich beschimpft – ich lernte, dass ein Gutachter immer zwischen den Stühlen sitzen muss, einmal war ich bei den Eltern Liebkind, einmal beim Land – in Tat und Wahrheit war ich bei Niemandem Liebkind. 

Ich wollte das Gesetz zugunsten der Kinder ändern. Ich wandte mich an meinen Klinikchef Prof. Dr. W. Müller. Zuerst verstand er nicht: „Sie wollen ihre Nebenbeschäftigung auffetten?“ – war das Einzige was ihm dazu einfiel. Dann kam ich wegen eines Patienten von ihm, einem ehemaligen Freigeborenem, das schwere Geburtsschäden erlitten hatte. Das Kind war nach der Intensivpflege blind und blieb sauerstoffabhängig. „Was geht sie das an?“ – er erinnerte sich nicht gern daran, dass die Heldentaten der Neonatologie auch Krüppeln hervorbringen. Wieder eine Abfuhr.

Dann kam ich wegen eines Kindes, das nach zwei Hirnoperationen zur palliativen Pflege nach Haus entlassen worden. Das Kind muss unerträgliche Schmerzen gehabt haben, seine Bewegungen waren unkontrollierbar, es konnte kaum schlafen, wollte ununterbrochen essen und raaunzte andauernd. Ich besuchte die Familie zu Hause. Ein schmuckes Häuschen, niedlich und geputzt. Im Häuschen Elend: Vater oder Mutter hielten das Kind Tag und Nacht. Sie schmiegten es an sich, versuchten es zu beruhigen. Die Medikamente waren abgesetzt worden, die Eltern wünschten kein Opium, was ich als Misshandlung empfand. Niemand sollte heutzutage Schmerzen leiden. Da das Kind 3 Jahre und 4 Monate alt war, hatte man die Pflegegeldstufe mit 3 festgesetzt, womit die 24Stunden Pflege keineswegs gedeckt war. So konnten sich die Eltern keine zusätzliche Hilfe zum Beispiel einer Kinderkrankenschwester leisten.

Mein Gutechten erkannte: Es handelte sich um voraussichtlich kurzfristige Pflegeerfordernis rund um die Uhr und mit fortwährender Pflege. Daher über 180 Stunden und wegen Tag- und Nachtpflege musste die Stufe 6 gegeben werden, die höchste Stufe. Laut Gerichtsurteil bekam die Familie des fünfjährigen Kindes allerdings nur Stufe 3, weil gleichaltrige Kinder auch viel Aufmerksamkeit benötigen und manche nicht durchschlafen. Das Unrecht war in dem Fall, wie in der viel zu viel benutzten Metapher: himmelschreiend! „Warum engagieren Sie sich da?“, wollte Müller jetzt noch wissen. „Wegen der Ungerechtigkeit.“ Zum ersten Mal realisierte mein Chef, dass ich Pflegegeldgutachten nicht nur wegen des Zuverdiensts, oder des Ehrgeizes machte, sondern der Kinder wegen. Das überraschte ihn – aber bitte. Er nutzte seine Kontakte zu einer Redakteurin der Kleinen Zeitung. Sie machte eine Story über diese Familie, die sie besuchte und fand ebenfalls dass man so mit solchem Elend nicht so umgehen könne. Auf nichts hätte Flecker reagiert, aber auf einen Zeitungsartikel in dem er als „Kinderfeind“ dargestellt wurde reagierte er. Also empörte Nachfrage bei den Klinikchefs und erstes Überdenken. Ich besuchte den schwer behinderten ÖVP Abgeordneten Huainigg in Wien, ich besuchte die Frau Landeshauptmann der Steiermark W. Klasnic und bat alle dem unseligen Treiben des LHStV. Einhalt zu gebieten. Ergebnislos.

Letzten Endes half eine bereits angesetzte „Bürgeranwalt“ mit Peter Resetarits. Alle Eingeladenen bekamen nachmittags einen Anruf aus dem Büro des Landeshauptmannstellvertreters in dem ihnen zugesichert wurde, dass sie Pflegegeld gemäß meinem Gutachten bekämen, wenn sie nicht ins ORF-Studio gingen. Der Damm war gebrochen.

Als „Abschied“ wurden mir sechs Gutachten zugewiesen, Gerichtsstand war Leoben. In Wien wurde bereits das Gesetzt geändert. Die „Kann-Bestimmung“ der 70 zusätzlichen Stunden wurde zur Verpflichtung, gegen Widerstände zum Beispiel des Kriegsopferverbands, der diese Pflegestunden auch für Alte haben wollten. Sie waren in der Gesetzesnovelle allerdings auf Kinder und Jugendliche beschränkt. Das Bundespflegegeldgesetz war noch nicht in Landesgesetze umgegossen worden, der LHStV. hatte es mit der Einbringung der Novelle nicht eilig. So grausam kann das Schicksal sein, dass er selbst derjenige sein musste, der seine Niederlage exekutieren musste. Fast wie im historischen Rom in dem der Sieglose Feldherr sich ins Schwert zu stürzen hatte. In Leoben allerdings wurden alle meine sechs Gutachten, die die neue Regelung bereits angewandt hatten, „gehoben“ = also zurückgewiesen. Ich sehe es vor mir, wie die mittelalterliche Rechtspflegerin des Landes mit langem, blondem Zopf, Tracht und schmalem Mund dauernd Einspruch erhob und die Zurückweisung meiner Gutachten verlangte. Die Gutachten wurden einem weiteren Gutachten unterworfen, der Prozess vertagt. Die Eltern fuhren unverrichteter Dinge nach Hause. Zornig fuhr ich mein Auto beim Ausparken in eine Seitenbegrenzung – 800.- Euro Schaden. Zuletzt siegte ich aber. Das Gesetz wurde geändert, die steirischen Kinder bekommen seitdem angemessenes Pflegegeld.