"Da rauchen junge Burschen - Ihre Patienten"

Der stellvertretende Klinikvorstand und Leiter der Infektionsabteilung war ein selbsternannter Kinderradiologe, und Kettenraucher. Er trat fast gleichzeitig selbstbewusst und christlich unterwürfig auf. Dazu kam eine Tendenz zur Intrige, von sehr netten Streifen wahrhafter Kollegialität und Interesse am Fach durchzogen. Eine vielschichtige Persönlichkeit, an der man die jeweilige Stimmung der Klinik gut ablesen konnte, denn anders als er es gern gehabt hätte, konnte man in seiner Seele wie in einem offenen Buch lesen.

Mit empörten Schritten kam er auf Station im 5. Obergeschoss, es muss so 1987 gewesen sein. Wir hatten ein paar Jugendliche auf Station. Wir konnten das nicht steuern. War Platz so legte die Ambulanz in der Nacht Jugendliche, die aus irgendwelchen Gründen eingeliefert worden waren, zu uns. Gründe mochten ein Besäufnis mit Bewusstseinsverlust, oder ein unklarer Kollaps nach Drogeneinnahmen gewesen seien, oder auch eine familiäre Krise, die in der Nacht gemeinsames Wohnen unmöglich machten.

Da kam er, ganz Chef: „Sie, Kollege Scheer, (Das Wort „Kollege“ wird von den Oberen immer benutzt, um Untergebenen drastisch ihre Lage vor Augen zu führen und sich gleichzeitig korrekt zu benehmen.) draußen am Balkon stehen ein paar Jugendliche und rauchen!“ Ich stellte mich dumm, das kann ich gut: „Und?“ „Da muss man was machen, das ist verboten. Am End‘ schmeissen’s noch die Tchik über’s G’lander.“ Ich blieb stumm, was sollte ich sagen. Er: „Sie müssen was unternehmen?“ Ich: „Was schlagen Sie vor? Was haben Herr Professor denn gemacht, als sie soeben vorbei gegangen sind?“

Disziplinäre Verstöße Jugendlicher wurden bis zu meinem Eintreffen jahrelang verwandt, um Marguerite zu verspotten, als sie noch in Ausbildung, die Station führte. Verstöße gegen die Anstaltsordnung wurden in der täglichen Mittagsbesprechung angekreidet, die „Psychiatrisierung“ der Psychosomatik vorzuschlagen. Das hätte den Kindern geschadet, die selten psychiatrisch krank waren und ein Angebot der Kinderklinik benötigten.

Meine Antwort machte den Vizechef sprachlos. Er hatte nichts getan. Das sollte ich machen. Was sollte er jetzt sagen? Er fühlte sich im Recht. Ich hatte die Verantwortung für diese Jugendlichen, ich sollte in die Schlacht ziehen. „Sie müssen das denen verbieten!“ Ich: „Schauen Sie. Sie rauchen, ich rauche und die Kinder sind nicht zur Raucherentwöhnung aufgenommen worden. Ich kenne die kaum und wahrscheinlich werden sie auch nicht lange auf Station sein. Ich werde mich einfach an ihrem Vorbild orientieren und auch nichts machen.“Er ging.

Einige Monate später, mein unterstützender und liebevoller Chef war auf Urlaub lancierte ein Nachbar, ein Kollege, der numerisch mehr Patienten brauchte, um Abteilungsstatus zu erhalten, eine Überschrift in einer grazer Gratiszeitung: „Prostituierte in Kinderklinik!“ In der Tat betreuten wir eine sechzehnjährige Patientin, die seit langem sexuell missbraucht worden war. Missbrauchte Kinder lernen früher als andere ihre Beziehungen über Sexualität zu regulieren (was wir Erwachsene meistens machen). Der Patientin war auf Station langweilig, am Nachbarhaus wurde das Dach renoviert, die verschwitzten Bauarbeiter schauten herüber – gut gebaute Kerle – und unsere Patientin entblößte ihren Oberkörper und zeigte den Männern ihre Brüste. Das hatte ein Arbeiter mit dem Handy fotografiert. Das verschwommene Bild zierte die Titelseite. Der bösartige Kollege dekuvrierte sich indem er mich ungefragt beriet: „Sie müssen ein Dementi verlangen. Das muss die Zeitung zurücknehmen.“ Ich hatte Karl Kraus gelesen: „Der Skandal fängt an, wenn die Polizei ihm ein Ende macht!“ hatte er in einer polizeianhängigen Causa eins Liebesverhältnisses zweier Jugendlichen getextet. Ich wusste ein Dementi würde die Zeitung anstacheln, mich etwa über Leserbriefe zu verfolgen. Ich ging zu Prof. Wendler, demjenigen, den ich bei den rauchenden Jugendlichen hatte auflaufen lassen: „Was soll ich machen?“ Wendler, ganz Sir: „Nichts. Lassen sie Gras über die Sache wachsen, die gestrige Zeitung ist so vergangen wie der Schnee des letzten Jahres. Wenn der Chef zurückkommt, wird er den Chefredakteur zu sich bestellen, ihm erklären, dass wir das Kind im Nachtdienst wegen akuter Gefahr aufnehmen mussten, dass eine Hure genauso ein Mensch ist wie jeder andere und den Redakteur ersuchen eine gute Geschichte über sie und ihre Station zu machen. Damit haben sie mehr gewonnen, als verloren. Außerdem“ fügte er verschmitzt hinzu: „haben Sie den Dienstweg eingehalten, indem sie mich aufgesucht haben, im Gegensatz zu dem Herrn Kollegen, der das lanciert hat. Der Dienstweg besagt, dass nur ich gemeinsam mit dem ärztlichen Direktor die Klinik nach Außen vertrete. Daher dürfen Sie gar nichts machen.“ Ich war erleichtert. Ich hatte keine Lust gehabt etwas zu unternehmen, ich fand es unwürdig. Hätte ich mich vor die Jugendliche stellen sollen? Hätte ich erklären sollen, dass missbrauchte Kinder sexuell früh erweckt worden sind, wo doch in den Vorstellungen der Öffentlichkeit das „arme Wesen“ sind, die nichts mit Sex zu tun haben wollen? Hätte ich meine Station verteidigen sollen? Schon bevor ich begonnen hätte, hätte ich verloren. Es kam, wie Prof. Wendler vorausgesagt hatte. Chef kam zurück und der positive Artikel erschien. Wie ich das Gesicht meines Kollegen sah, der mich mit dem Artikel vernichten wollte, wusste ich, dass es gut gelaufen war.

Zum Abschluss: derselbe Kollege Zach stahl mir bei der Einführung von computergestützten Kostenstellen „meine“ Patient*innen“. Dies auch am Weg zu einer Abteilung. Plötzlich hatte ich keine Patienten in den letzten vier Jahre behandelt, alle waren unter seiner Kostenstelle subsumiert, meine war gestrichen worden. Das neue System hatte einen Schwachpunkt. Da es sich um ein junges Datenverwaltungsprogramm handelte, gab es noch keinen Mechanismus einmal erfasste Patienten zu löschen. Einmal erfasst, immer drin. Die Daten wurden so vielen Subsystemen zur Verfügung gestellt, dass man sie überall hätte einzeln streichen müssen. Das war damals unmöglich.

Also setzte ich mich vor den Terminal und gab 30 Mal: Peppi Schinkenspeck mit unterschiedlichen Geburtsdaten ein. Das System unterschied Patient*innen nicht nach Namen, sondern nach dem Geburtsdatum. Daher waren meine Peppis jeweils an einem anderen Tag geboren. Sie waren fest eingetragen, natürlich auf der Kostenstelle meines „Freunds“. Am Nachmittag kam der Abteilungsleiter Neonatologie persönlich zu mir nach Hause – das erste und das letzte Mal. Er war der Beauftragte für die Einführung des Systems hatte meine Kostenstelle gestrichen: „Warum machen Sie das?“ „Sie wissen’s. Man hat mich beraubt, gestrichen, gelöscht.“ „Was wünschen Sie damit Sie das System nicht ruinieren?“ „Geben Sie mir meine Patient*innen zurück.“ Am nächsten Tag gab’s wieder meine Kostenstelle.

Klinik ist Kampf, ihn zu gewinnen macht Spaß, ihn manchmal zu verlieren, muss ertragen werden.