Wozu eine Biographie?

Manchmal muss man innehalten. Heute, am 18. Mai 2020 gibt’s viele kleine Texte, sogenannte Blogs auf meiner Website. Manche sind besser, manche schlechter, bei manchen würde Überarbeitung helfen. Wozu aber das Ganze? Wer soll, wer wird das lesen? Meine Kinder und Kindeskinder, meine Freund*innen, Fremde?

Ab 15 habe ich mir meine Todesstunde ausgemalt. Ich weiß – das ist komisch, vielleicht ist es eine jüdische Eigenschaft. Da uns Juden für nach dem Tod nichts versprochen ist, da wir nichts machen können, um die Ewigkeit zu beeinflussen, da Gott sich keinem von uns je gezeigt hat, phantasieren wir Sterbeszenarien. Für uns ist es nicht der Moment der Wahrheit es wird nicht Gericht gehalten und – da es die Hölle nicht gibt – wird auch nicht verdammt, aber es erscheint auch kein Licht, das uns hinüberbegleitet. Denn es gibt kein Drüben. Die Ernte, die Bilanz des Lebens muss daher hier stattfinden: Vielleicht steht dann meine Familie um mich und ich geben noch kluge Sätze von mir? Besser sie alle, die das lesen, können es schon jetzt lesen. Das wäre dann im geistigen so, wie im finanziellen: ich gäbe dann mit „warmer Hand“ und nicht erst nach meinem Hinscheiden.

Dazu ein Witz:

„Der alte Kohn liegt im Sterben: „Mizzerle, bist Du da?“ „Ja, Tateleben.“ „Jankele du auch?“ „Ja Tateleben.“ „Rivka, du?“ „Ja (und schluchzt).“ Das geht so weiter, die ganze Familie ist im Sterbezimmer anwesend. Kohn (schon mit schwacher Stimme): „… und wer ist im Geschäft?“

Soll sich die Familie versammeln, ängstlich-gespannt auf letzte Worte des Sterbenden wartend? Tatsächlich gelingt das nur selten. 

Beim Großvater rannte man treppauf- und ab, um einen Arzt zu rufen. Inzwischen starb er. Vielleicht hätte er noch was zu sagen gehabt. Meinem väterlichen Großvater wurde der Kehlkopf rausgenommen – keine Stimme. Meine mütterliche Oma versuchte noch in Kurrent ein Heft mit ihren Erkenntnissen zu füllen und blieb stecken. Vielleicht kam’s ihr unwichtig vor. Ida, väterliche Großmutter, schrie ich will nicht sterben – und starb zwei Tage später alleine. Ima, meine Mama, hinterließ Briefe in denen sie zum Beispiel ihre Eifersucht auf Marguerite eingestand. Sie müssen noch irgendwo herumliegen, vielleicht neben den Kriegserinnerungen meines ersten Schwiegervaters.

Kurt, mein Vater fragte mich im überfüllten Krankenzimmer des Kaiser Franz Josefsspitals: „Wenn ich das überlebe, bin ich dann ein altes Boberl?“ Ich antwortete: „Ja!“ Er drauf: „Dann sterb ich lieber.“ Und starb in derselben Nacht. Jahrelang haben meine Stiefmutter Friedl, Michi und Dani, meine Halbgeschwister gerätselt was „Boberl“ ist? Für mich ist es einfach einE AlteR ist, ein nutzloses.

Meine Mama war im Sterben böse auf mich. Nicht sehr, aber doch. Sie hasste es, dass ich ihre Wünsche ernst genommen hatte. Sie wollte keine Lebensverlängerung, sie wollte keine Hilfe nach ihrem Schlaganfall. Sie wollte nicht zur Rehabilitation, obwohl sie wieder essen und schlucken können wollte, aber dann doch nicht. Sie sprach undeutlich und meist war sie verdrossen, dass es zu Ende ging. Wenn sie keine Kreuzworträtsel mehr lösen konnte und sich als Last empfand, wollte sie nicht mehr leben. Die „Kreatur“, die ums Leben ringt, um jeden Preis leben will, die war auf mich böse. Die andre Seite in ihr respektierte meine Herzlosigkeit, die mit dem Lebenshunger keine Koalition einging. Ich bin fast sicher, dass sie sich dachte: Er wird’s an sich selbst mit seinen Kindern büßen und ich glaube sie wird Recht haben. 

Also: ich schreibe das alles, weil ich vermute, dass ich in den letzten Stunden und Minuten nichts Erhellendes mehr zu sagen haben werde. Außerdem, weil ich annehme, dass das, was ich hier schreibe „erhellend“ ist. Weiters, weil ich glaube etwas weitergeben zu können – lehrreiche Erlebnisse, philosophische Überlegungen, oder Gedanken zu dem Witz, der dieses Leben ist und dadurch etwas Humor, vielleicht auch Stoa. So ist einmal mein jüngster Sohn Noah mein Zielobjekt an den ich beim Schreiben denke, mal mein ältester Samuel, der mir in so vielem ähnelt, mal mein Philosoph Aaron, der meine Texte redigiert, mal meine Tochter Anna, die die Nase rümpft und alles was ich je gesagt oder getan habe in Zweifel zieht und manchmal meine Älteste, die Halt im Leben sucht und erkennt, dass das Leben im Gegensatz zur Straßenbahn keine Haltegriffe hat. Andere Leser*innen schmuggeln sich in meine Vorstellung: meine skeptische Frau, die mich für einen mittelmäßigen was-auch-immer hält, meine Texte meist vermeidet, weil sie fürchtet sie loben zu müssen und das mit ihrem Gewissen nicht vereinen kann. Manchmal denke ich beim Schreiben auch an Elvira Salomonowitz, meine Kindheits- und Studienkollegin, die mir so liebe Rückmeldungen schreibt, oder der eine, oder die andere Freund*in aus jungen, oder alten Tagen, die nie reagieren – vielleicht aus Güte, um mich zu verschonen.

Sicher nicht schreibe ich für die Schriftsteller unter meinen Freunden, vor allem nicht für Peter Sichrovsky. Der großartige Charles Bukowsky hat Zusammenkünfte mit Schriftstellern vermieden. Er sagte dort gäbe es Neid, Konkurrenz, oder schlechtes Benehmen. Lieber traf er sich mich Bewunderinnen, Saufkumpanen, Briefträgern wie er selbst, oder anderen Leuten, die nie lesen. Das ist für mich ein gutes Vorbild, denn ich würde nie Doron Rabinovici, oder Robert Schindel als Fokus wählen.

Als Motiv meine Internetbiographie zu schreiben, bleibt noch meine Freude am Schreiben. Ich bin kein Ausnahmetalent, nicht über Durchschnitt. An mir ist leider kein Josef Roth, kein Max Perutz, kein Robert Neumann verloren gegangen. Viele Menschen schreiben heute, fast als ob der Respekt vorm Geschriebenen mit der Verfügbarkeit verloren gegangen wäre. Ich kann selbst Literaturnobelpreisträger*innen nur schwer lesen. Sie sind mir wie Peter Handke oder Olga Tokarczukvzu kompliziert, oder schreiben so, wie sie sich vorstellen, dass man schreiben muss, um etwas Besonderes zu sein. Da ziehe ich Ausnahmetalente wie Alex Beer aus Vorarlberg vor, die unvermittelt und aus dem Nichts kommend Krimis schreibt, die im Wien nach dem 1. Weltkrieg spielen und dieses Wien ist durch sie fühl- und sichtbar. Fred Vargas, die Kriminalkommissar J.-B. Adamsberg aus den Pyrenäen erfindet, der Dinge erspürt, wenn er in fließendes Wasser schaut, müssen gelesen werden, weil sie etwas Besonderes sind. Mir bleibt dann nicht mehr viel Zeit, Zeitungen lese ich keine mehr, vor allem weil es dort nur selten lesenswertes wie Bettina Eibel-Steinervin der Presse gibt, die in einem Kaffeehaus im 7. Wiener Gemeindebezirk Kolumnen schreibt, die ihr Leben mit zwei Teenagern lesenswert machen. Kleine Vignetten, anschauliche Beobachtungen und ihre Gefühle.

Nun ist es klar: Meine Biographischen Notizen sind an eine virtuelle Nachwelt adressiert, die sich vielleicht dafür interessieren wird. Vielleicht auch nicht. Als Lebender sehne ich mich nach Rückmeldungen, die meist ausbleiben. Nach meinem Tod werden mir diese egal und sein. Voraussichtlich wird es weder ein Programm geben, mit dem man die Texte wird lesen können, noch werden meine Texte gespeichert sein. Aber das macht im Moment des Schreibens nichts. Oft erlebe ich Altersgenossen, die schon nach einer Krebsdiagnose keinen Wunsch mehr haben etwas weiterzugeben. Es erscheint ihnen angesichts ihres nahenden Todes flau und schal. Daher schreibe ich Texte als noch Gesunder und sehe beim Schreiben eine Zukunft, in der sich Kinder und Kindeskinder über meine Texte beugen und den verblichenen Urahn lesen. Aus Zeiten lesen sie dann, die sie nicht erlebt haben, über Umstände, die ihnen unvorstellbar geworden sein werden und mit Erkenntnissen, die nur selten zeitlos sind. In solchen Momenten geschieht vielleicht übergenerationaler Wissenstransfer. So sollen meine Blogs die Mitteilung der Todesstunde vorwegnehmen, in der ein letzter Satz das Weiterleben eines anderen Menschen beeinflussen könnte.