Ab in die Berge: Hakone - der 3. Tag der Reise

Morgens ist’s schwer: ich nahm Rücksicht auf Noah und ging nach dem Aufwachen nicht in den Onsen (das gemeinschaftliche Bad im Hotel in Tokyo). Er nahm Rücksicht auf mich und so gingen wir am Hotelfrühstück vorbei, weil ich es nicht leiden kann. Hundert Menschen scharen sich um ein Buffett. Es riecht nach Eierspeise, Miso Suppe und Fisch gleichzeitig, ich nähme dann einen Toast mit Marmelade, den ich nicht mag und wir würden 50US$ zahlen und frustriet sein. Da schon viel lieber eine Udon-Suppe, egal wo. Wir waren zwar gut und pünktlich gepackt, aber ohne einen Tropf Flüssigkeit oder eine Kalorie gingen wir zum Zug, das erste Mal wo wir eine Reservierung für den Schnellzug Shinkansen brauchten und in den riesigen Bahnhof der 37 Millionenstadt Tokio.
Die U-Bahnstation konnte man unterirdischen von der Hotellobby erreichen. Verständnislos schaute der Concierge, weil wir mit je einem Trolley in der Größe eines Bordgepäcks und einer Tasche, beziehungsweise einem Rucksack, die Treppe wählen. Endlos scheinende Gänge in aus dunklem Granit führen zur U-Bahn. Die Menschen gehen diszipliniert nach den Vorschriften des Linksverkehrs, was wir damals noch nicht wussten. Aber da Noah so groß ist, erkennen sie in ihm sofort den Ausländer und machen sich ihr eigenes Urteil, wenn sie fast in ihn reinrennen. Er geht vor. Hinter ihm schließt sich der Menschenstrom sofort, wie wenn wir in einem Fluss wären. Daher komme ich manchmal nicht nach, er lernt es aber erst sich nach mir umzudrehen. Später werden wir es bei großen Menschenmengen so machen, dass er hinter mir geht, manchmal spielen wir auch „Zug“ wie damals als er mein kleiner Junge war – nur umgekehrt.
Wir fahren 25 Minuten bis Hauptbahnhof Tokio. Der Hunger hat zu hangryness geführt. Wir müssen ganz vorsichtig miteinander sein. Schnell ist ein Wort zuviel gesagt, schnell eine Bemerkung falsch verstanden. Aber – endlich: es gibt Essen überall und in allen Formen. Zuerst müssen wir aber eine Zugsreservierung machen, kein Zug darf ohne Reservierung betreten werden (Was so nicht stimmt: Es gibt in jedem Zug zwei Wagons in denen die Menschen ohne Reservierung sitzen dürfen, aber dort gibt’s keine Platzgarantie und keinen Grünen Wagen mit den breiten Sitzen.) Wir haben nie eine Kontrolle gesehen, außer als Noah sich einmal neben mich setzte, obwohl der den gegenüberliegenden Sitz gebucht hatte – da war der Zugsführer augenblicklich bei ihm und hat seine Karte sehen wollen.). Wir kaufen im Food-corner ein. In einem rosaroten großen Raum, wie einem Supermarkt etwa 80 kleine Geschäfte mit in der Kleidung passenden Verkäuferinnen. Bei jedem Stand werden die Artikel in Plastik präsentiert, Sprachbarrieren spielen daher keine Rolle. Jeder Stand bietet anderes an. Die einen verkaufen Suppen, die im Mikrowellenherd gewärmt und dann entsprechend verpackt werden, sodass sie im Zug warm gegessen werden können; Sushi aller Arten und Kombinationen gibt’s nebenan. Andere haben Benton-Boxen mit Fisch oder Fleisch: Wiener Schnitzel auf Reis mit Gingerblättchen, vorher Frühlingsrollen und als Abschluss den körnigen Reis mit schwarzem Sesam. Es gibt Süßigkeiten aller Arten, lokale wie Mochis, internationale wie Lindt-Schokolade. Alle Stände haben Getränke: Bier, Wasser, Limos, warmen Tee mit und ohne Milch, Kaffee in Einwegflaschen mit Thermosfunktion – die bekommt man allerdings auch in Automaten, von denen einer warme der andere kalte Getränke verkauft.
Ich würde gleich am ersten Stand kaufen, aber Noah will „Expirience“ das heißt alles anschauen. Also wird’s da und dort gustiert und dann gekauft. Viel zu viel, die Fülle hat verführt. Zum Schluss braucht er noch Mochis, die er dann nicht mehr wird essen können. Google-maps führt Noah und also mich durch den riesigen Bahnhof, wir finden den richtigen Zug beim entsprechenden Eingang. Angekommen frägt Noah einen Sicherheitsmann, ob wir da richtig sind. Dessen Nicken ist Bestätigung und Entschädigung für viele, viele kleine, richtige Entscheidungen.
Der Grüne Waggon, also 1. Klasse ist alt und schön. In Vielem scheint das Japan, das ich vor 33 Jahren besucht habe, stehengeblieben zu sein. Der berühmte Shinkansen ist alt geworden, wenngleich er mit 300 km/h düst. Damals waren wir mit unserem elfmonatigen Buben Sämy unterwegs. Manches blieb gleich: Wir sehen fast nie Kinder am Bahnhof oder im Zug. Selbst auf Spielplätzen sind sie selten. Die Züge der Tokyoter U-Bahn sind aber neu, der Shinkansen bestens gepflegt, aber der Mann, der Essen und Trinken mit weißen Handschuhen brachte, den gibt’s nicht mehr, er wurde eingespart. Die Bahnbeamten arbeiten in tadellosen blauen Uniformen, sie grüßen einander mit Verbeugung, stehen an den vorgesehenen Stellen – für einen Europäer streng militärisch anmutend. Strenge Höflichkeit ist ihre Art und Präsentation. Ich wünschte die ÖBB hätte den alten Stil behalten, trotz Gewerkschaft und Privatisierung. Der japanische Nationalcharakter hat sich anscheinend seit 1945 nicht geändert, auch wenn Japan seither eine konstitutionelle Monarchie ist und vieles von den USA kopiert, wie die Mode und die Spiele. Aber sie geben allem ihre typischen Eigenheiten: die Mode wird japanisch verfremdet, auch wenn sie aus Jeans und Baseballkappen besteht: die Hosen sind dann unten weit, die Art des Zerreißens ist anders und dazu wird ein landestypisches Accessoire getragen, wie eine Kirschblüte im Haar oder eine asiatische Augenschminke. Ebenso ist es mit den Spielen in den großen Hallen, die zum Beispiel Las-Vegas oder Hollywood heißen: das beliebteste Spiel erinnert mich an vor 65 Jahren: Kügelchen fallen durch aus Nägeln gemachte Labyrinthe. Der Weg der Kügelchen kann kaum beeinflusst werden. Neu ist die elektronische Anzeige, die elektronsiche Musik und dass der Spieler einen runden Knopf bei der rechten Hand hat druch dessen Betätigung er sich einbilden kann, den Spielverlauf zu beeinflussen. Hinter den Spielern stehen große, färbige Plastiktöpfe, die von den Mitarbeitern gewartet werden und in die der Spieler die gewonnen Kugeln, die in die Mitte des senkrechten Spielfelds gefallen sind, gießt. In USA würde man die Illusion das der Spieler den Verlauf beeinflussen kann, stärken, wie es bei den einarmigen Banditen der Fall ist.
Durch dicht bebaute Vorstädte rast unser Zug. Keine Abstände zwischen den Häusern, kein Grün – zweistöckige, graue Häuser bis an den Horizont. Essen und trinkend, genießen wir die Zugsfahrt.
Umsteigen, neue Karte für den lokalen Zug nach Hakone. Die gleiche Verbindung wie zwischen Semmering und Mürzzuschlag – ein Zug der hin und herfährt. Der Zugsführer macht Ansagen in Japanisch und Englisch – für unser Ohr klingt beides gleich. Nun in den Alpenzug hinauf bis zur Endstation. Um 14 Uhr sind wir beim Hotel und das ist um eine Stunde zu früh. Große Aufregung, haben wir vielleicht beim Mittagsschlaf gestört, jedenfalls wurden wir nicht erwartet. (Um 17 Uhr wissen wir warum: schon vom Parkplatz aus wird die Rezeption mittels Funks alarmiert, dass ein Gast sich nähert. Dann wird der bei der Türe unter Nennung des Namens empfangen, die Schuhe auf einem vorbereiteten Bänkchen gewechselt, die eigenen Schuhe im Fach mit der Zimmernummer die von der Rezeptionistin gerufen wird, versorgt. Dann werden die Formalitäten abgewickelt, der Reisepass mit zwei Händen entgegengenommen, das Anmeldeformular ebenso gereicht und wieder angenommen. All das konnte man bei uns als wir zu Früh kamen nicht machen. Also: Verwirrung.)
Was jetzt?
Ins Hakone Open-air Museum, das wollte ich nochmals sehen. Eine große Picassosammlung und herrliche Figuren vor dem Hintergrund der vulkanischen Landschaft. Seit 1990 wurde die Picassosammlung noch vergrößert, ein Anbau erfolgte. Das Gras zwischen den Objekten ist hellbraun, fast beige und wie ein Teppich, so ebenmäßig geschnitten. Eine Staute von Niki de Saint-Phalle wuchtig. Vor ihr im Gras liegt eine Bronzefigur, ein Mann am Bauch ausgestreckt, das Gesicht unkenntlich im Gras vergraben. Sinnbild des besiegten Mannes? Daneben ein neuer Turm mit Glasfenstern, den man besteigen kann. Das „Kaffeehaus“ besteht aus einer Theke an der man Tee und Kaffee bekommt, nebenan gibt’s einen kleinen, gefassten Bach an dessen Ufer Holzpanele angebracht sind und man eingeladen ist, seine Füße im warmen Mineralwasser zu laben. Wir machen das sofort. Wuchtige Figuren säumen unseren Weg: japanische Ritter, bronzene Gestalten vor den weichen Hügeln des Basaltsteins, die sich in vollem Grün präsentieren.
Im Picasso-Haus eingetroffen sehen wir die Keramiksammlung. Picassos wirkt heute zeitlos. Wie in jedem Museum verliebe ich mich in ein Stück. Ich kann nicht mehr als eines wahrnehmen, die anderen sehe ich nur. Es ist ein Gesicht auf Keramik, von den Fraben und der Gestaltung könnte man es der Art brut zuordnen. Es ist in einem Rahmen. Die Nase ähnelt mehr einem Phallos, denn einer Nase.
Selbst Zeichnungen des alt gewordenen Künstlers zeigen pralle Erotik. Die Frauen weisen ihre Vulva dem Betrachter hin, der mit einem Zeichenblock scheu am Rande steht.
Ich suche die Statue des kleinen, dicken Saxophonisten, an den ich mich gut erinnere. Er steht nicht mehr vor der Kulisse des Alpenvorlands und so übersehe ich manches, weil ich ihn suche. Leider kann sich keiner von den Mitarbeiterinnen an ihn erinnern – vielleicht gab’s ihn nur für mich oder sie kennen sich nicht aus und beantworten alle Fragen so, dass sie ja nichts Falsches sagen.
Jetzt sind wir im Ryokan willkommen: wir werden eufgenommen, in unsere Villa geführt, das private Onsen gezeigt – eine kleine Steinwanne im Boden eingelassen in die die Thermalquelle ununterbrochen strömt. Der Überlauf ist das ganze Bad. Dreierlei Patschen gibt’s im Zimmer: fürs Zimmer selbst, für die Toilette und für den Weg ins Haupthaus. Säuberlich gefaltet finden wir einen japanischen Bademantel und eine Winterjacke, die wir für die Wege zum öffentlichen Bad und zu den Mahlzeiten im Haupthaus benutzen sollen. Im Bad der obligate Hocker zu der Waschung vor dem Eintauchen ins Bad. Alles benutzen wir. Zuerst unseren privaten Onsen, dann den öffentlichen. Auch hier der Blick ins Grüne, obwohl es Anfang Jänner ist. Wir benehmen uns offensichtlich andauernd falsch, wir wissen’s nicht besser. Völlig entspannt, durch und durch gereinigt, gehen wir in den Speisesaal (Patschen an, Patschen aus, Patschen an, Patschen bleiben – bitte nicht während der Mahlzeit aufs Klo gehen – das wäre Patschen aus, Patschen an, Patschen aus, Patschen an, Patschen aus, Patschen an, Patschen aus, Patschen an.)
Soll ich wieder übers Essen selbst berichten? Ein feines, achtgängies japanisches Essen wird abends serviert. Zuerst ein Tablett, gleich groß wie der niedere Tisch mit einer dünnen Serviette bedeckt bis wir Platz genommen haben. Darauf finden sich Schälchen mit Sushi, eine Suppe, die auf ein Stövchen gesetzt wird, das mit Acetylen erhitzt wird und genauso lange brennt bis die Suppe warm ist, aber noch nicht verdunstet. Die Kellnerin bietet herrliches Service und erklärt die vielen unbekannten Speisen. Sie ist Die traditionell gekleidet, kniet neben uns, wenn sie uns erklärt wie und in welcher Abfolge die verschiedenen Speisen zu essen sind.
Noah isst zum ersten Mal Crevetten diesmal sogar eine roh. Die vertraute Misosuppe ist sehr dunkel, der geräucherte Bückling riecht streng – wir essen uns in und durch eine fremde Welt der feinen Gerüche und Geschmäcker. Es schmeckt alles sehr zart, wie japanischer Tee. Als Lehre des gestrigen Tages, wo ich dauernd Tee getrunken habe, und mit großen Unterbrechungen schlief, nehme ich Bier und Sake: sofort werde ich müde, aber um Mitternacht genauso wach wie in den anderen Nächte. Unterbrochene Nächte machen Schreiben möglich.
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