Judiths Zeugung in Obergurgl 1976

Ich war furchtbar jung, 25 Jahre alter Turnusarzt. Ich lernte Ingeborg, eine sechs Jahre ältere Frau kennen. Sie war schlank, schwarzhaarig sportlich und hatte strahlend blaue Augen. Wir beschlossen gemeinsam zur kinderärztlichen Fortbildung nach Obergurgl zu fahren. Ich war mit meinem orangen Renault R4 mit Armaturenbrettschaltung unterwegs, in dem man entweder heizen oder radiohören konnte (Der Heizschlauch mündete unter der Radiobefestigung im zwischen den Vordersitzen und machte bei Benutzung das Radio so heiß, dass es keinen Ton mehr von sich gab.) Ingeborg gab mir ihre irdene Teekanne und zwei Häferln mit – unsere erste Verbindlichkeit.

Es klingt alles furchtbar romantisch und es war’s auch. Die pädiatrische Fortbildung Obergurgl war eine exquisite Veranstaltung. Univ.-Prof. Dr. Dr. E. G. Huber war der Veranstalter im Auftrag der österreichischen, deutschen und schweizer Kinderärztegesellschaft (ÖGKJ). 

Ich war mit meiner Mutter unterwegs, sie wollte das Zimmer mit mir teilen bis meine Freundin Ingeborg nachkäme. Wir kamen nachmittags an, die Lifte sperrten gerade zu, die letzten Sonnenstrahlen beschienen die Bergspitzen und Gletscher.

Meine Mama konnte sich vor Staunen und Glück nicht fassen. Immer wieder rief sie aus: „So schön, dass ich das noch erleben durfte!“ Sie war 53 Jahre alt und sollte 88 werden, aber sie fühlte sich als alte Frau. Sie fuhr nicht Schi, machte keinen Wintersport. Einmal hatte sie Jahre zuvor einen Schikurs in Bad Gastein belegt, aber weder das Material noch der Schnee kam ihr entgegen – es war nicht ihres. Die Schönheit der alpinen Landschaft in Obergurgl, dem höchsten Kirchendorf der Alpen, die frisch-perlende Luft, das Knirschen des Schnees in der Kälte der letzten Jännertage – sie war glücklich.

Wir wohnten in einem Hotel, das im darauffolgenden Sommer abgerissen wurde. Es hieß Alpenhof und stammte noch aus der Zeit der einspurigen Straße, die nur Kleinwagen durch den handgeschlagenen Tunnel zuließ. Wie ein übriggebliebener Milchzahn stand das kleine Hotel nahe an der neuen Straße, hinter ihm begannen sich die großen Hotels aufzutürmen. Es war bescheiden, Zimmer mit Frühstück, alte Betten, viel Brot und Semmel am Morgen für die Schifahrer, die erst abends wieder etwas essen würden. Mama blieb länger als sie geplant hatte. Ingeborg kam mit Zug und Postbus aus Linz, wir nahmen noch ein Zimmer.

Die Fortbildung war auf höchstem Niveau: jedes Thema hatte einen Halbtag, etwa: Die kindliche Hüfte. Da wurde vom Prof. Platzer die Anatomie der Hüfte demonstriert. Dann kam Prof. Graf vom Krankenhaus Stolzalpe und stellte seine Erfindung der Ultraschalluntersuchung der kindlichen Hüfte vor. Zum Schluss sprach der Chirurg über die Operation der im Kindesalter unbehandelten Hüftluxation – jeder Vormittag war komponiert und abgerundet. Etwa 150 Kinderärzt*innen in Ausbildung hörten das mit großer Aufmerksamkeit und Anspannung im Festsaal des Hotel Hochfirst. Schon das Hotel machte Eindruck: ein nobles Alpinhotel, die arrivierten Ärzte wohnten im Hause und wurden abends von den Vertretern der Babymilchfirmen, wie Nestle, oder Milupa –zu teuren Weinen eingeladen. Die Besitzerfamilie Gstrein saß auf ihrem Platz. Herr Gstrein war ein kleiner Mann, der wie ein Schafhirte im Anzug aussah. Er überblickte alles und war freundlich-widerwillig. Er war früher sommers allein auf der Alm gewesen und pflegte im Winter zu ruhen. Der noble Hotelbetrieb schien ihm lästig zu sein, Worte kamen nur mühsam aus seinem Mund. Der Aufstieg seines Hauses zum 1.Hotel des Ortes war ihm und seinem Fleiß zu danken.  Das Erbe zerstörte die Familie und der Schwiegersohn führt heute 2020 das Regiment. Ich hatte 1977 keinen Zutritt – wir aßen kein mehrgängiges Abendmenü, sondern gingen in den Ort essen. Einmal lud Ima uns zu einem Fleischfondue ein. Vielleicht hoffte sie noch, dass aus mir und der sechs Jahre älteren Frau, Tochter des Werwolfführers Kärntens nichts werden würde, vielleicht nahm sie Ingeborg auch auf.

Zu Mittag gab’s Tagungspause, da fuhren alle Schi. Einmal wurden Ingeborg und ich von den Söhnen Hubers, des „Oberorlogs (= Der Veranstalter. Das Wort ist ein lokalesKunstwort, aus Obergurgl und „logos“ zusammengesetzt.) aufgefordert mit ihnen das Königstal zu befahren. Die Erinnerung verklärt diese Abfahrt. Wir fuhren mit dem Bus nach Hochgurgl, dann mit dem steilsten Schlepplift auf den Vorderen Wurmkogel I und II, querten und kurvten im Tiefschnee talwärts. Unter einer ausreichenden Schneedecke lauerten Steine. Ingeborg schien durch den Schnee hindurchsehen zu können, als hätte sie Röntgenaugen. Ich stieß an Steine, fiel hin, suchte meinen Schi, stand auf, hatte große Schwierigkeiten. Ingeborg die auf den kärtner Bergen des Mölltals Kindheitserfahrungen gesammelt hatte und als Teenager 2. in der Kärntner Landesmeisterschaft gewesen war (Nur Erik(a) Schinegger war besser.), glitt talwärts, die Sonne schien vom blauen Himmel, wir waren jung, lachten viel – vielleicht schämte sich Ingeborg für mich. Ich war begeistert, das Königstal war zwar jenseits meines Könnens, aber ich fühlte mich wie Toni Sailer oder Anderl Molterer, den Idolen meiner Jugend.

Um 16:15 fingen die Vorträge wieder an. Ich versäumte keinen. Vorher wurde im Hotelzimmer die Teemischung von Ingeborg, Ingeborgs Mutter überbrüht. Mit leichtem Sonnenstich rannte ich zum Vortragssaal – alle rund um mich in dem eng bestuhlten Saal sahen ähnlich aus. Es war schwer in der wohligen Wärme nicht einzuschlafen. So mancher Kopf neigte sich zur Brust – alt und jung mussten sich auf die alpine Sonne, den relativen Sauerstoffmangel in der Höhe und die körperliche Betätigung einstellen. Eine noble Wiener Ärztin und ein „Naturbursch“mit strubbeligem Haar kamen in Schikluft und Schischuhen in den Saal, der mit dunkelrotem Teppich ausgelegt war. Während  der Vorträge zogen sie die Schuhe und alles was gerade noch schicklich war, aus.

Ingeborg fand mich vielleicht nicht schön, vielleicht nicht sportlich genug – aber sie war von meiner Liebe, meinem Eros überwältigt. Alle ihre Widerstände, die sie gegen ihren Langzeitpartner, meinen früh verstorbenen Kollegen Dr. Alois Piperger (Sohn des Aufsichtsratsvorsitzenden der Länderbank und des ehemaligen Zentralsekretär der SPÖ) gehabt hatte, alle Widerstände, die sie gegen ihre Freunde vom Reitsport aus Linz hatte, alle ihre Mauern, die sie in der Wohngemeinschaft mit zwei Männern, von denen sie adoriert wurden aufgebaut hatte – brachen ein. Sie öffnete sich und war davon selbst überrascht. 

Ich war jung, stark, entschlossen in Obergurgl einst zu den Vortragenden, den Auserwählten zu gehören und mit dieser Frau die Hänge zu befahren.

Bis 2011 habe ich oft in Obergurgl gesprochen, im Hotel Hochfirst steht meine Plakette im Ehrenschrank, die Familie Gstrein gibt’s zwar nicht mehr, aber die Erben kennen mich. Im Frühjahr 1977 schrieb mir Ingeborg einen Brief, dem eine Farbstiftzeichnung beigelegt war: Da sah man einen bärtigen, kleinen Juden – ein kleines Kind und die schwarzhaarige, glückliche Mutter Hand in Hand gehen. Ängstlich rief Ingeborg mich am Tag danach aus Linz an. Ich war im Wilhelminenspital im Dienst und sagte: „Jö!“ Ich hatte mir vorgenommen, sollte ich je eine Frau schwängern „Jö!“ zu sagen. Das macht Freude und Glück. Heute am 29.10.2020 ist Judith 43 Jahre alt.