Arztleben - Ein Einstieg

Es gibt keinen unpolitischen Posten. Nirgendwo. Es geht nicht um Leistung, Vorkenntnisse, oder Begeisterung. Vielleicht auch. Vor allem aber geht es um die richtige Stelle, die richtige Erbschaft und die entsprechende Zugehörigkeit. In Österreich der Siebzigerjahre konnte man sein: alter Adel, sozialistischer Adel, Mitglied eines der christlichen Studentenverbindungen (am besten in der 3. oder 4. Generation), oder schlagender Burschenschafter am äußersten rechten Rand. Nur selbstgestrickter Linksradikaler mit zionistischem Hintergrund war keine perfekte Voraussetzung für Karriere.

Meinen ersten Posten als Turnusarzt bekam ich im Karolinen Kinderspital der Stadt Wien, dem ersten österreichischen Kinderspital in dem eine allgemeine, tägliche Besuchszeit eingeführt worden war. Der umstrittene Mittdreißiger und junger Chef dort, Herr Prim. Dr. Hans Zimprich hatte bei einem Studienaufenthalt in USA erkannt, dass das „Wegsperren“ der Kinder falsch ist. In Wien war es selbst bei nicht infektiösen Kinder gelebte Praxis, diese nach der Aufnahme wochenlang von meist geistlichen Schwestern betreuen zu lassen und die Kinder den Eltern nur jeden zweiten Sonntag durch eine Glaswand zu zeigen. Ein Argument dafür war, dass die Kinder nachdem sie ihre Eltern gesehen hatten „schlimmer“ wurden. Sie schrien mehr, weinten und wollten zu ihren Eltern. Das angepasste Bravsein in den Wochen ohne Eltern hatte R. A. Spitz in der Kinderübernahmsstelle (KÜST) nebenan als Hospitalismus erkannt und anaklitische Depression genannt. Es war Hans klar, dass sein Spital als erstes die Erkenntnisse R. A. Spitz verwenden müsste, um das Los der Kinder zu bessern. Jahre später arbeitete meine Mutter als Erzieherin in der KÜST, ein Versuch ihrem Kaufmannsleben zu entkommen. Sie scheiterte. Die Kombination aus psychosozialem Elend, mangelnden Gegebenheiten und der Hoffnungslosigkeit der Kinder und Jugendlichen war zu viel für sie. In einem Nachtdienst es muss ungefähr Frühjahr 1974 gewesen sein, kletterte ein Knabe auf die Fensterbrüstung des sog. französischen Balkons und drohte hinunterzuspringen. Er wollte nicht eingesperrt sein. Meine fünfzigjährige Mama sah sich außerstande nachzuklettern. Sie litt danach noch ein paar Wochen unter Magenbeschwerden, verlor an Gewicht, wurde von Ilse einer Mitbewohnerin und Internistin in ihrer Wohngemeinschaft am Laaberg als krebskrank diagnostiziert, gab den Posten wieder auf, ging um eine Erfahrung reicher zurück in ihr schönes Modegeschäft „Edith“ in der Landstraße 123, das während der Abwesenheit der Chefin beinahe eingegangen wäre und ward ihres Lebens wieder froh.

Die KÜST hatte als Motto neben dem Eingang in schmiedeeisernen Lettern stehen: „Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder!“ das ihm der Anatom Julius Tandler, Gesundheitsstadtrat des Roten Wiens gab. Dieses Wien war danach braun geworden und so musste erst ein Zimprich kommen, um den Alltagsfaschismus zu bekämpfen.

Faschismus und Krieg hatten Österreich in vielen Bereichen so „eingefroren“ so dass die kinder- und familienfeindlichen, strengen Regeln bestehen blieben. In USA hatten die Psychoanalytiker aus der Menninger Foundation in Topeka, Arkansas in der unter anderem die jüdischen Emigranten B. Bettelheim und meinem späteren Lehrer und Freund R. Eckstein arbeiteten, die Begleitung des kranken Kindes zum Standard erhoben. Die im medizinischen Sinn körperlich wahrnehmbar, gestresste Reaktion der Kinder auf den Verlust ihrer Bezugspersonen, die mit Rückzug, Depression und als Schutzmechanismus mit äußerlicher Ruhe einherging, wurde von Unwissenden als brav sein und als pflegeleicht wahrgenommen. 

Zimprich wusste es besser aber konnte die Besuchszeit nur mit Hilfe des „Sonnenkaisers“,  wie der judenstämmige Bundeskanzler Dr. Bruno Kreisky im Volksmund genannt wurde, ändern. Ab diesem Erfolg war er der Feind der wiener Krankenhausverwaltung, die Teil des Magistrats war, weil er sie übergangen hatte. Die Herrschenden Sozialisten hatten ein dichtgewebtes Netz von ehemaligen NSDAP Parteigenossen gewirkt: Da war Oberstadtphsikus Dr. Elmar Junker, Chef der zuständigen Magistratsabteilung 15, der politische Chef Gesundheitsstadtrat Dr. Alois Stacher der schwerverletzt von der Ostfront heimgekehrt war, Dr. Alois Prochaska Chef des wr. Jugendamts (1968 – 91) – alle aus der Zeit des Nationalsozialismus tief verbunden und Chefs der psychosozialen Einrichtungen Wiens. Zimprich hatte als Sohn von Anhängern des Führers und kremser Bub ein untrügliches Gefühl für die alten Naziseilschaften und deren Hass auf den jüdischen Parteivorsitzenden, der ihnen zwar erstmals die absolute Mehrheit im Parlament beschert hatte, aber dem sie sich zu Recht unterlegen fühlten. Sich über die Sekretärin des Sonnengotts, Dr. Margit Schmidt Vorteile zu verschaffen, musste zur bürokratischen Vernichtung führen. Angeführt wurde diese vom Vorsitzenden der Gewerkschaft der Gemeindebediensteten Rudolf Pöder einem Ausbund an Gehorsam, Schlechtigkeit und Bosheit – Eigenschaften, die ihn bis zum Präsidenten des Parlaments werden ließen.

Obwohl Zimprich aus Mautern/Donau stammte, dann eine erzkatholische Phase hatte und in erster Ehe mit der Tochter eines der reichsten Weinbauern der Wachau vom nachmaligen Erzbischof von Wien, Franz Kardinal König, getraut wurde, war ab 1968/69 ein Linker, ein Sozialdemokrat, wenn nicht sogar Linkssozialist. Am besten gefiel ihm das Konzept der freien Liebe. In Maitagen 2020, in denen ich das schreibe, ist er an den Folgen eines Schlaganfalls betagt gestorben, daher erspare ich Ihnen Details.

Als ich mich um meine erste Stelle bewarb, war der schöne Hans Primarius mit speziellen Rechten (wie einem eigenen Primaressen) im Karolinen Spital der Stadt Wien in Wien 9, Sobiekigasse. Die Tradition des Spitals war die des „Roten Wiens“, die des reformerischen Geists der Sozialisten der Zwischenkriegszeit. Renee A. Spitz hatte in dieser Clearing Stelle des wiener Jugendamts“ seine Beobachtungen gemacht, die zeigten, dass Säuglinge trotz guter somatischer Pflege, ohne Bindung zu bekommen, an Einsamkeit sterben. Diese Beobachtungen hatten die „Diagnose“ anaklitische Depression hervorgebracht. Sie beschreibt abgestumpfte und beziehungslose Kleinkinder, die scheinbar „brav“ sind und keine Schwierigkeiten machen, innerlich jedoch ständig aufgeregt sind und letzten Endes. Vor allem Hans Asperger war Kritiker der kinderfreundlichen Haltung Hans Zimprichs aber gleichzeitig sein Habilitationsvater, wie das damals hieß. Hansens Festhalten an Besuchszeit und Psychosomatik, statt Heilpädagogik kostete ihn seine Habilitation, auf die er sich jahrelang vorbereitet hatte. Der Unterschied zwischen Heilpädagogik und Psychosomatik liegt darin, dass die Kinder in Ersterer eingesperrt sind und aus der Sicht der Ärzte immer die Schuldigen an ihrem Schicksal sind. In der Psychosomatik werden psychodynamische „Ursachen“ eines Verhaltens, oder einer Erkrankung verstanden. So wie die Sonderschule für die geistig Behinderten, war auch die Heilpädagogik ein Fortschritt für die psychisch kranken Kinder: sie wurden nicht mehr geschlagen, sondern therapiert. Allerdings wurden Kinder, die aus verschiedenen Gründen in den Spiegelgrund des Steinhofs eingeliefert worden waren, mit Gutachten von Dr. A. Gross aber in zwei Fällen eben auch von Hans Aspergers durch verhungern lassen, aber auch aktiv mit Giftspritzen als „lebensunwertes Leben“ im Sinne der nationalsozialistischen Theorie des gesunden Volkskörpers, getötet. 

So erzählte Hans Zimprich uns jungen Ärzt*innen stolz, dass er bei einer Sitzung der wiener Kinderärzte kurz vor der Hablitationssitzung den Klinikvorstand Hans Asperger einen Kindesmisshandler genannt hatte, weil er die Kinder in der Univ.-Klinik nicht besuchen ließ. Das war selbst in Zeiten der Studentenrevolution 1969 undenkbar. Man musste medizinische Teilrigorosen noch im schwarzen Anzug absolvieren, man hatte einen Chef nicht mit den Händen in der Hose zu begrüßen und man „biss nicht in die Hand des Herrls“ wie das mein Lehranalytiker Walter Spiel einmal ausdrückte. „Den, der das macht,“ so Spiel weiter: „musst Du gleich derschlagen!“ 

Als Gegenfigur zu den Menschen, die im NS-Staat sozialisiert worden waren, besuchte uns Rudi Eckstein wöchentlich zur Supervision. Rudi war ein aus Wien geflüchteter Psychoanalytiker der jedes Jahr über Einladung Walter Spiels den Sommer in Wien verbrachte. Dr. phil. Rudolf Eckstein (1912 – 2005) war Psychoanalytiker der zweiten Generation, also der Schüler eines Freud-Schülers. Nach seiner Emigration nach USA war er jahrelang Schriftführer in der Menninger Foundation in Topeka, wo er zum Beispiel Bruno Bettelheim mit den Autismus aus psychodynamischer Sicht zu verstehen versuchte. Nach seiner Übersiedlung nach Los Angeles war er in privater Praxis tätig. Seine Verbundenheit mit Wien zeigte sich unter anderem in seinem „Wien-Museum“ am Dachboden seines Hauses und seines Bedürfnisses am 1. Mai beim Maiaufmarsch der Wiener Sozialisten mit dabei zu sein. Unvergesslich wie er die Medaille für fünfzigjährige Zugehörigkeit zur Wiener SP bekam und ich die gleiche einen Tag später am Flohmarkt kaufte und mit der Rücksichtslosigkeit der Jugend trug. Sonst war er mir ein väterlicher Freund, zu Späßen aufgelegt. Am internationalen Psychoanalytikerkongress schossen wir Papierflieger auf V. Frankl, bei einem Lehrgang der steirischen Ärztekammer war er mein Starredner und wir aßen viele, viele Apfelstrudel miteinander während wir über den Austrosozialismus der Zwischenkriegszeit sprachen.

Rudi, Sozialdemokrat durch und durch, wacher Psychoanalytiker ohne den Dogmatismus, der den österreichischen Adepten eigen war, konnte schon bei dem ersten Satz einer Erzählung über ein krankes Kind hängenbleiben und die ganze Krankengeschichte und die Interaktion mit dem Therapeuten daraus ableiten. Wir hingen an seinen Lippen, die meist mehrere Apfelstrudel, die sein Honorar waren, verschlangen. 

Zuletzt sei noch des Vorkriegschefs des Karolinen Kinderspitals gedacht: W. Knöpfelmacherder dort bis zu seinem Selbstmord am 14.4.1938 gewirkt hatte. Knöpfelmacher war der Kinderarzt meiner Mutter gewesen, hatte ihren Lungenspitzenkatharr entdeckt und sie zur Kur nach Klamm-Schottwien geschickt, dem ersten „Urlaub“ ohne Eltern, der sie stark und selbstständig machte und die beginnende Tuberkulose (damals versc hleiernd: Lungenspitzenkatharr genannt) eindämmte. Der begeisterte Österreicher und lediglich „Rassejude“ wurde von den Nazis unehrenhaft aus dem Dienst entlassen. Wie viele andere wollte er in der so gewordenen Welt nicht leben und nahm es sich. Dies habe ich in dem Erinnerungsbuch der Universität Wien korrigiert, wo sein Tod nicht auf die Verzweiflung angesichts der Naziherrschaft zurückgeführt worden war, sondern auf Auswanderung. 

Ich habe im Karolinen Spital viel gelernt. Hans unterstützte die neuen Initiativen in seinem Haus: Psychotherapie, Familientherapie, Gruppentherapie und uns junge Assistent*innen in der klinischen Praxis. Da die erste Infusion erst durch ihn im Spital eingeführt worden war, war er für neue Therapien. So profilierte ich mich mit der 1. in diesem Spital durchgeführten Behandlung einer Meningokokkenmeninigitis bei einem dreizehnjährigen Knaben. Davon ein andermal – es war spannend.