Kinderschutz – Hindernisrennen für Kinder

Geschlagene und missbrauchte Kinder waren mein Schicksal. Seit meiner Tätigkeit als kinder- und jugendpsychiatrischer Konsiliararzt (ein Fach, das ich nie erworben habe) beim Jugendamt der Stadt Wien ab 1979 – 1985 verließ mich das bis zum letzten Tag im Krankenhaus 2013 nicht. Ich hatte es vergleichsweise einfach: diese Tätigkeit wollte Keine*r. Wichtig war: man macht das ausschließlich für die Kinder. Darüberhinausgehende Ziele hat man nicht. Und: Ziel ist einzig und allein, dass Missbrauch, oder Misshandlung aufhört. Darüberhinausgehende Ziele hat man nicht: weder will man die Familien verbessern noch dem Bestrafungswunsch zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Moral dienen. Es steht einem kein Urteil zu, weder über den/die Täter*in, noch das Opfer.

Der Lohn meiner Tätigkeit im Kinderschutz lag nicht nur im Großen Ehrenzeichen des Landes Steiermark, das mir von Frau Landeshauptfrau Waltraud Klasnic verliehen wurde, sondern auch in der Gesetzesreform, die die Einrichtung und Unterhaltung von Kinderschutzgruppen an allen Kinder- und Jugendabteilungen verpflichtend vorschreibt.

Die Tätigkeit selbst war abwechslungsreich und manchmal anstrengend. Die anfängliche Vorstellung, dass Jugendwohlfahrt, Justiz, Exekutive und Krankenhaus zusammenarbeiten, musste ich aufgegeben. Die von Michael Höllwarth und mir gemeinsam begonnene Kinderschutzgruppe des Kinderzentrums LKH Graz, wurde als ungebetener neues „Spieler“ auf einem beackerten Feld empfunden.

Tatsächlich ging es um nicht mehr und nicht weniger, als dass die Misshandlung, oder der Missbrauch aufhörte. Bald entdeckte ich das Mittel der „Öffentlichkeit.“

Da war eine sehr propere Frau, die mit ihrem Kind, das einen für*s Leben unbedeutenden Herzfehler hatte zur Kontrolle in die kardiologische Ambulanz kam. Der Kardiologin OA. Dr. Suppan fiel auf, dass das Kind die gleichen geheilten Rippenbrüche hat, wie sie sonst bei am offenen Herzen operierten Kindern zu sehen sind. Sie konnte sich aber nicht erinnern eine Operationsindikation gestellt zu haben. Das kann vorkommen. Die Eltern suchen einen anderen Arzt, ein anderes Zentrum auf und lassen das Kind dort operieren. Graz hatte damals einen sehr guten Ruf, was die interne Kardiologie betraf und einen schlechten was die operative anging. Das ist so geblieben. Die Fallzahlen sind einfach zu gering und im Grunde braucht Österreich nur ein Zentrum in dem kindliche Herzfehler operiert werden. Daher fragte Dr. Suppan die Mama, ob das Kind operiert worden wäre. Da das nicht der Fall war, nahm sie das Kind auf und verständigte die Kinderschutzgruppe. 

Da die Familie der steirischen Prominenz angehörte, einen Abgeordneten zum Nationalrat in der näheren Bekanntschaft und dergleichen mehr, wurde die Angabe der Mutter anfangs geglaubt. Sie sagte sie hätte ihr Kind nie geschlagen, auch sonst niemand, da sie immer beim Kind sei. Das nun achtmonatige Kind war sehr gepflegt und sehr seltenen Diagnosen zum Beispiel die Glasknochenerkrankung wurden diskutiert. OA. Suppan war sich ganz sicher, dass nur Misshandlung als Ursache in Frage kam. 

Der Untersuchungsgang ist an sich seit der Entdeckung des Battered Child Syndromfestgelegt: Ganzkörperröntgen, um andere, typische Knochenbrüche zu finden, MRT des Gehirns, augenärztliche Untersuchung um Einblutungen in den Glaskörper zu suchen, Elterngespräche und letzten Endes Meldung an die Jugendwohlfahrt (Jugendamt). All das fand nicht statt. 

Nach dem „Konfrontationsgespräch“ änderte sich die „normale“ Richtung, die so eine Patientengeschichte an sich nehmen konnte: entweder die Familie kooperierte und man besprach Änderungen, die ein Wiedervorkommen verhindern sollte, oder die Familie „leugnete“ trotz erdrückender Beweise und die Polizei übernahm die weitre Versorgung inklusive Bestrafung, Kindsabnahme oder anderer, im Jugendwohlfahrtsgesetz vorgesehener Maßnahmen. Da die Familie und vor allem deren Anwalt schnell begriffen hatte, dass jedes weitere Vorgehen der Klinik zu Schande führen musste, wurde die Frau mit der Frage ob sie an einer psychiatrischen Krankheit litt dem Leiter der psychiatrischen Klinik (UP Dr. H.-G. Zapototzky) vorgestellt, der sie aufnahm. Sie entging der Bestrafung – das muss einem egal sein. Das Kind wurde bei den väterlichen Großeltern untergebracht. Die Mutter hatte das Kind, das nicht perfekt war, so nicht annehmen können. Ob sie „wirklich“ psychiatrisch krank war, oder ob die Diagnose und damit die Strafunfähigkeit eine Gefälligkeit des Psychiatriechefs, schon die Frage ist nur belastend?

Noch ein anderes, der unzähligen Erinnerungen.

Eine Zeitlang wurde häufig zwei Buben, acht und 11 Jahre alt, wegen Konzentrationsschwierigkeiten an die Station gebracht. An sich keine Diagnose, die wir stationär aufnahmen. Dafür gab’s und gibt’s niedergelassene Psycholog*innen, Lernberater*innen und – im Falle Medikamente nötig sind Kinder- und Jugendpsychiater*innen. Manuel und sein Bruder Ferdinand kamen unangekündigt mit der Mutter in die Ambulanz und schienen den diensthabenden Assistent*innen offensichtlich so krank, dass sie sie aufnahmen. Schon beim ersten Mal, an dem die Mutter ihre Kinder besuchte, hatte sie ein Veilchen, ein blaues Auge. Ich sprach sie darauf an. Wie alle misshandelten Frauen sagte sie, dass sie unglücklich gestürzt war. Ich sagte ihr, dass das nicht stimmen könne. Blaue Augen stammen fast immer von einer Faust, vor allem, wenn das Auge unverletzt geblieben ist. Stürzt man zum Beispiel auf einen Türknauf, so erleidet das Auge im besten Fall ein stumpfes Trauma. Die Knaben waren kaum auffällig, bisschen schlimme Buben, wenig in ihrer Aktivität gebremst (oder wie man im Volksmund sagt: schlecht erzogen.) Misshandlungen der Knaben waren zu sehen: Striemen am Rücken bei Manuel, blaue Flecken am Gesäß bei Ferdinand. Wenn nicht Misshandlung, dann zumindest Erziehung mit körperlicher Züchtigung, die in Österreich verboten ist. Ich bestellte den Vater der Kinder. Er wollte nie Jurist werden, wie es sein Vater war, der Staatsanwalt gewesen war, sondern er wollte Gitarrist werden. Er bekleidete die Position eines Juristen im Marktamt. Ich fragte ihn zu Auseinandersetzungen zu Hause? Er spielte gerne Gitarre, wenn er vom Dienst nach Hause kam. Dafür brauchte er in der Wohnung Ruhe. Er spielte in seinem Studio, das 2/3 der Wohnung einnahm. Seine Frau und zwei Buben hatten dann die Küche zur Verfügung. Wenn die Kinder vorm Schlafengehen lärmten stritt er mit der Frau, manchmal kam ihm die Hand aus. Nach 21 Uhr war das Spielen im Haus nicht mehr erlaubt weshalb er die Zeit zwischen 17 und 21 Uhr ausnützen musste.

Zu einem zweiten Gespräch kam er vormittags mit seiner Mama, der Staatsanwaltswitwe, die über die aus dem ehemaligen Jugoslawien stammende Schwiegertochter kein gutes Wort hatte. Mama war empört, dass man die Wünsche ihres Sohns nicht respektierte; sagte, dass die Frau nicht kochte; berichtete von ihrem verstorbenen Mann, der sehr streng gewesen wäre; drohte mir mit beruflichen Konsequenzen, wenn ich das „auffliegen“ lassen würde; nahm ihre Enkelsöhne in Schutz nicht ohne ihrem Sohn Vorwürfe zu machen, dass er nicht hart genug durchgriff. Ich sagte, dass ich die Misshandlung im Interesse von Frau und Kindern auffliegen lassen würde, unabhängig von Folgen für mich oder dem Ruf den die Familie in Graz hätte. Gesellschaftliche Konsequenzen seien mir egal, da ich als „Zugreister“ ohnehin keine Aufnahme in die grazer Gesellschaft gefunden hätte und wohl auch nicht finden würde. Das Gesprächsklima verhärtete sich, wie man sagt. Da schaute ich auf die Uhr: 10:12. Ich musste in die Vorlesung, Hauptvorlesung um 10:15, 50 – 60 Student*innen warteten. Ich forderte die Beiden auf mitzukommen, wir könnten den Student*innen die Sache darlegen und mit ihnen diskutieren. Die Schwäche anständiger Menschen ist ihre Anständigkeit. Von mir mit weißem Mantel aufgefordert, kamen sie mit. Ich stellte den „Fall“ in der Vorlesung vor: blaues Auge, Misshandlungsspuren, auslösende Ereignisse, kulturelle Differenzen (Die Mutter erwartete, wie sie es zu Hause gelernt hatte, dass der Mann das Essen nach Hause brächte, was bei dessen Beruf kein zusätzlicher Aufwand gewesen wäre. Um ja nicht den Eindruck zu erwecken, dass er bestochen worden sei, bracht er aber nie Nahrungsmittel vom Markt mit.) Vor allem die Studentinnen waren empört. Alle Argumente in die sich der juristische Gitarrist verwickelte, wie: ich brauche zu meinem Spiel Ruhe; ich kann doch erwarten, dass sie für mich einkauft und kocht, wenn sie keiner außerhäuslichen Arbeit nachgeht; sie muss die Kinder besser erziehen und die Argumente der Großmutter, dass man zu ihrer Zeit dem Manne gedient hätte – prallten an den Student*innen ab. Vor allem war die Misshandlung jetzt öffentlich, wenn auch nicht im Sinne einer medialen Öffentlichkeit. Es war vielleicht nicht ganz legal mit Vater und seiner Mutter in den Hörsaal zu gehen, aber ganz illegal war’s auch nicht. Damals führten wir noch Patient*innen aller Arten im Hörsaal vor: vom Baby bis zur Jugendlichen, von Mangelernährung bis Verbrennung. Außerdem hätte mich ein Verfahren gefreut, in dem ich wegen Nichteinhaltung der ärztlichen Schweigepflicht belangt worden wäre, wo die Misshandlungen einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden wären. Oder wie mein Vater nach meiner Promotion oft zu mir sagte: „jetzt hast Du auch ein Amtskappl auf!“ – und er meinte es nicht nett.