Montag, 20.1.2020 - Barbados

Heute hätte meine Schwester Geburtstag gehabt. Sie starb vor 25 Jahren im Alter von 49. Der Geburtstag war ihr immer sehr wichtig, jedes Jahr, bis zuletzt. Meist war dann die Feier nicht die, die sie sich gewünscht hätte. Das Lied von Katharina Valente: „Papatschi schenk‘ mir ein Pferdchen – ein Pferdchen wär‘ mein Paradies. Papatschi solch ein Pferdchen wollt‘ ich nicht!“ beschreibt ihre Enttäuschungen sehr gut. Ich hingegen, der kleine, unwürdige und zu anpassungsfähige Bruder mit den ererbten, schlechten Fettwerten, war heute auf der Karibikinsel und hatte einen sehr glücklichen Tag. Schrecklicher Egoismus, oder einfach Lebenfreude.

Anlegen um acht Uhr in Bridgetown, der Ausflug mit den Schildkröten beginnt um 09:15 in der Grand Bar, 2. Stock für die Englischsprechenden. Der Wechsel von den selbstgesteuerten Seetagen zum Ausflugstag ist schwerer, als man denkt. Wir fangen um sieben Uhr an, aber alles stellt sich uns entgegen. Die Welt um uns hat überall Kanten: die Schwimmsachen sind im obersten Fach des Kastens. Ich bin zu klein, um sie zu sehen, Marguerite nicht in Stimmung. Also werfe ich alles aus dem Fach am Boden. Marguerite fängt das mit der Bemerkung auf: „Scheinbar ist das Fach nicht das Richtige.“ Die Verwünschung dieser Reise schlägt wieder zu: ich finde eine Uhr nicht, diesmal ist es meine wasserdichte, die ich 2018 in der Südsee gekauft habe. Ich weiß aber, dass sie in der Kabine ist. Ich habe sie gesehen. Dann finde ich sie unter den Schiffspapieren in der Schreibtischlade. So eine 18m2 große Kabine hat viele Verstecke in Laden, Kästen und unter dem Bett. Selbst unter der Sitzbank sind zwei Laden vorhanden. Wir haben dort Rucksäcke und leere Taschen für allfällige Einkäufe während der Reise. An die denke ich oft, denn ich will keine von denen im Ende April im Bus von Venedig nach Graz mitnehmen – aber das sage ich nicht, es ist nur Teil der Ecken, die sich dem Aufbruch entgegenstellen. Ganzkörpersonnenschutz am Balkon mit Spray – dann ist der Balkonboden eine Rutschbahn und Marguerite wischt – alles Teil des Aufbruchs.

Wie auch immer: wir erreichen die Grand Bar trotz allem – nach Art der Alten – zu früh. Was erwartet uns? Der Ausflug: „Schwimmen mit den Schildkröten“ ist abgesagt! Ich habe das Gefühl unter einem Sturzbach des Glücks zu stehen. Kein Ausflug! Ich will mich sofort umziehen gehen. Ich habe das langärmlige T-Shirt für’s Schwimmen an und darüber mein Sportleibchen. Marguerite will gehen, jetzt und sofort. In der Kabine war’s zugegeben nicht leicht für uns. Also mit dem unnötigen Rucksack und der unangepassten Kleidung raus. Am Weg, im Casino (sie kennen sich ja jetzt schon aus) treffen wir eine Französin, die in gebrochenem Englisch nach dem Ausgang fragt, So weit reicht ihr Englisch, dass sie ihren Unmut über den von ihr empfundenen Zwang Ausflüge der Costa mitzumachen, ausstößt. Sonst würde einem nicht einmal der Ausgang gezeigt. Wir zeigen ihr den Ausgang, er ist gekennzeichnet. Was macht sie jetzt mit ihrem Ärger, sie wollte sich beschweren und dann das. Auch anderer Menschen Welt hat scheint’s vorspringende Kanten an denen sie sich stoßen.

Draußen wartet ein traktorgezogenes gelb-blaues Bähnli, das uns zum Hafenausgang bringt. Wir beide werden hineingestopft und können uns danach frei bewegen, die anderen werden in Busse verladen. Im Ankunftszenter kaufe ich mir ein T-Shirt, weiß mit einem Pelikan, einem großen Fisch und der Aufschrift Barbedos. Der Hintergrund des Touristenabzeichens wird bei Sonne blau.

Angenehm: heute kein Greisenevent, keine schwer bewegliche Gruppe, einfach nach Bridgetown gehen dürfen, kucken, vielleicht Hummer essen, eventuell ein Bier, oder zwei, Kaffee trinken ins Wasser der karibischen See hüpfen und dann zurück. Ein Tag an Land, auf einer karibischen Insel ohne Plan – das Glücksgefühl macht mich fast betrunken, ich wiederhole es wieder und wieder. Marguerite liebäugelt mit einem Taxi zum Strand, ich fühle mich so wohl, der Schwindel vom der Umstellung vom bewegten Schiff lässt nacht und ich möchte gern die unschöne Straße vom Hafen zur Stadt zu gehen. Manchmal geht’s am Meer entlang auf kleinen Ständen werden Souvenirs angeboten und wir bekommen eine rote, kleine Tasche als Geschenk auf der Little Switzerland draufsteht: ein gleichnamiges Geschäft hat in der Mall eröffnet. Zur linken, meerseitig ist der General Market angeschrieben. Marguerite vermutet eine Touristenfalle und will nicht rein. Es ist der morgendliche Fischmarkt der Insel, neben der Marineverwaltung. Menschen kommen mit Pick-ups aus den Restaurants der Insel und kaufen geputzte, kochfertig hergerichtete, oder unberührte Fische: Mahi-Mahi, Sardinen, Schwertfische und viele uns unbekannte Fische. Kaum Fremde sind dort, am Rande des Markts spielen Fischer Karten auf umgedrehten Eisentonnen und rauchen, beim Imbissstand nebenan riecht‘s nach Kot, sonst hätten wir dort schon aus Neugier etwas gegessen. 

Weiter zieht sich der unattraktive Weg Richtung Stadt. Eine dreispurige Straße, die die Stadt mit dem Hafen verbindet. Manche Gebäude sind verkommen, andere renoviert; es gibt kleine Lebensmittelgeschäfte mit englischen Dosen und lokalen Früchten; ein Supermarkt preist auf großen Schildern billige Waren an. Bald kommen wir in das touristische Bridgetown. Im Kreisverkehr steht ein Kriegerdenkmal für die Gefallenen des 1. Weltkriegs. Gegenüber die Waterfront: ein Lokal desselben Namens kündigt seine Happy Hour von 9-12 Uhr an, es gibt drei Bier für den Preis von zwei. Im ersten Stock gibt’s einen Platz mit Blick auf eine Brücke, die zum Tor führt hinter dem Andenkengeschäfte, viele Restaurants und Bars sind. Ich komme mit zwei Bier gut aus und so nehmen wir zwei Bier und verzichten auf das dritte. Marguerite noch einen Himbeersmoothie und gemeinsam den catch of the day Mahi-Mahi. Wir schauen auf ein ankommendes Boot herab, das für Hochseefischerei ausgerüstet ist. Sechs Amerikaner haben zwei mittelgroße Fische gefangen, die ein schwarzer Mann kunstgerecht filetiert und die sie dann in einem Plastiksäckchen als Beute mitnehmen. Große Amerikaner, Businessmänner, einer hat eine Omega Seamaster am Handgelenk. Jeder der beiden gefangenen Fische hat sicher mindestens 250 US$ gekostet. Unsere Kellnerin ist ebenholzschwarz, lacht viel und bringt den Mahi-Mahi in einer würzigen Sauce. 

Marguerite hat an Hand des Plans festgestellt, dass „Living Lobster“ – das Hummerlokal in dem wir vor zwei Jahren waren nur einige Meter weit entfernt liegt. Mit vollem Bauch ist gut Hummer essen. Das Lokal liegt am Stadtstrand, die Wellen sind hoch und rote Wimpel zeigen die Gefährlichkeit des Meers an. Nicht unter Sonnenschirmen, sondern unter dem Holzdach setzen wir uns. Wir brauchen keine Liegen, die uns aggressiv angeboten werden. Im Lokal gibt‘s ein Schwimmbecken mit zirka 150 Hummern. Marguerite freut sich sehr auf Hummer. Sie hat angeblich seit zwei Jahren keinen gehabt. Also bestellt sie zwei mittlere Hummer, obwohl ich dachte wir würden einen Hummer teilen. Wäre auch genug gewesen.  Auf der Karte findet sich ein grüner Veltliner aus Niederösterreich, ihn zu bestellen ist frühe Heimwehprophylaxe. Der Blick auf den weißen Sandstrand, auf die hohen Wellen für die jeder Surfer sein halbes Leben gäbe, die Fremden, die in der Sonne grillen und so rot werden, wie unser Hummer gleich sein wird – das ist mein Ausflug nach Bridgetown. Wir fragen nach dem alten Mann, der uns vor  letzte Mal mit Bleistift gezeichnet hat. Marguerite mochte die Zeichnung aber nicht und so liegt sie in einer Lade zu Hause und wir lassen keine neue machen. Der Herr, ein pensionierter Lehrer ist müder geworden. Fast die ganze Oberlippe ist von einem schwarzen Geschwür bedeckt, normalerweise würden wir uns aus Mitgefühl zeichnen lassen. Nach dem Nachtisch, eine Babarumtorte, nehmen wir noch einen Erdbeerdaiquiry. Süßer Rum mit süßen Erdbeeren. Fast zu gut.

Wir fragen den Kellner, ob man heute ins Meer schwimmen gehen kann. Er rät ab, heute sei es nur für sehr gute Schwimmer. Dabei lacht er. Er ist ungefähr 190 Zentimeter groß, stark, breitschultirg und bewegt sich sicher wie ein Fisch im Wasser. Das bin ich, behaupte ich. Er grinst. Wir zahlen, Marguerite will zahlen, oder ich will, dass sie zahlt, aber sie weiß ihren Pin nicht. Sie ist eine weiße Frau. Sie weiß den Pin nicht, wenn sie ihn nicht wissen will. Wir machen backup der IPhones. Dann sitzen wir am Strand, die Wellen umspülen unsere Beine, die Hosen werden nass. Marguerite zieht sich aus, sie trägt ihren Badeanzug unter dem Kleid. Sie geht schwimmen, sagt sie. Sie findet Mitarbeiterinnen des „Mein Schiff“, das gleichzeitig mit unserem im Hafen liegt und bittet sie auf unsere Sachen aufzupassen. Das mache sie gern sagt eine junge Frau. Sie erzählt ihren Kolleginnen, dass sie ihre zwei Kinder im Alter von sechs und zweieinhalb Jahren zurückgelassen hat. Der Große verstünde das schon und die Kleine – na ja – der Papa wird‘s schon machen, sagt sie. Hoffentlich hat sie Recht. Das Meer ist wirklich herausfordernd. Wir springen über Wellen, tauchen in sie ab, es ist warm und die Farben so  wie die Karibik sein soll. Marguerite taucht in eine große Welle nicht tief genug ein, wird herumgewirbelt, überall voller Sand und kommt mit Wucht auf stößt der Schulter auf den Meeresboden. Ich sehe nur, dass sie plötzlich am Strand ist. Aufbruch. Der Taxifahrer bietet die Rückfahrt zum Schiff um 10 US$ für die sehr kurze Fahrt an. Wir handeln nicht, wie sind zahlungswillige Touristen, Idioten. Im besten Fall wwerden wir uns 3$ sparen können und dafür lange verhandeln müssen. Wir haben keine Lust. Das kleine Bähnli wartet wieder am Hafeneingang. Zu Hause, so empfinden wir unsere Kabine bereits kommt alles in Lot, wir duschen und schlafen wunderbar ein. Später, während ich das schreibe, haben wir den Hafen verlassen, zwei Seetage warten auf uns, der Sonnenuntergang war ebenso romantisch wie schön, ich habe ihr Haar in der untergehenden Sonne gebürstet und wir legten ab.

Wegen meiner „Computerallergie“ musste ich aufhören. Es ist keine Allergie, sondern durch das nach unten schauen, rinnt mir der Rotz aus der Nase, die ohnehin nur mehr wenig resorbierende Schleimhaut lässt es fließen, ich niese unstillbar und höre auf. Der Tag ist noch nicht zu Ende. Gegen alle Vorsätze gehen wir aus gesellschaftlichen Gründen zum Abendessen. Am Weg geben wir Salomon seine Kappe mit der Aufschrift Roland Garros zurück, die ich in der Früh gefunden hatte. Die Runde ist sehr nett, angeregt wird gesprochen, die Tageserlebnisse ausgetauscht, man spricht Schwyzerdütsch, ich verstehe manches. 

Das karibische Fest um 22:30 bietet südamerikanische Rhythmen, ich tanze eine Stunde durch. Die anderen zwei Paare lassen sich ein wenig mitreißen, Anneliese litt unter den Bewegungen des Schiffs, beim Tanzen lacht sie. Vor mir eine gleichgroße Französin, die ein weißes Blumenkleid mit Spaghettiträgern anhat. Sie tanzt großartig, ihr Rücken wird nass und nässer, ihre Bewegungen sind selbstbewusst völlig in der Musik, sie genießt ihr Tanzen, sie erscheint mir angenehm, ich weiche aus, um sie nicht zu behindern, oder mit meiner Unkenntnis zu behindern. Sie lächelt, wenn ich ihr doch in den Weg komme. Danke. Ennio umarmt mich, seine Kondition hat nachgelassen und er macht im Gegensatz zu früher Pausen. Manchmal bilde ich mir ein richtig zu tanzen, aber es ist sicher gut, dass ich mich nicht sehe. Ein Herr neben mir ist immer neben der Spur und genießt, ich bin irgendwo zwischen seinen Kenntnissen und denen der Französin. Erschöpft lese ich im Bett noch René Schröders Lebensempfehlungen und ärgere mich über die Journalistin, die ein ganzes Kapitel mit Fragezeichen füllt. Fragen habe ich selbst genug. Marguerite bedient ihre Teleklinik, im Raum ist es hell wie in einem Operationssaal – eine gute Nacht soll den schönen Tag beenden.  

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