Blond und gelähmt

An einem Tag zweimal dasselbe: ein blondes, adoleszentes Mädchen, das an einer Lähmung der unteren Extremität leidet. Das muss doch dasselbe sein, dachte sich der Ambulanzarzt und schickte die beiden im Stundentakt auf meine Station. Hysterische Lähmung hieß beide Mal die Diagnose. Für die Schwestern war das einfach so und die aufnehmende Ärztin dachte sich nichts dabei. Man war also einverstanden, legte sie nebeneinander: gleich und gleich gesellt sich gern. So einfach erscheint’s.

Kenntnisreiche Leser*innen meines Blogs wissen schon: ich höre zu und untersuche anschließend. Ich finde es unerlässlich. Wie Prof. Dr. Felix Mlczoch gesagt hat: Der Herrgott hat die Diagnose vor die Therapie gestellt. Julia, die als erste kam hatte akuten psychososzialen Stress. Ihr erster Freund, ihre erste Liebe wurde von den Eltern abgelehnt. Das ist nichts Neues, nichts Seltenes. Es macht aber immer großen Stress. Zudem war sie das behütete Goldmädchen schlechthin. Sagt auch noch nichts sagen die Kenner*innen. Man kann Schwierigkeiten haben und eine neurologische Erkrankung. Um das zu unterschieden gibt’s die Untersuchung. Es zeigte sich eine Lähmung beider unteren Extremitäten, die nicht zum Verlauf der Nerven passte. Die Empfindlichkeit der Haut war normal, die Muskeleigenreflexe unauffällig, vielleicht etwas gesteigert. Julia konnte mit Hilfe aufstehen sackte aber bald zusammen. Die obere Extremität war unauffällig. Sie erschien psychisch belastet, hatte aber keine Denk-, oder Aufmerksamkeitsstörung. Sie wirkte traurig. Der Befund passte zu keiner bekannten neurologischen Erkrankung. Dadurch wurde eine somatische Erkrankung unwahrscheinlich. Natürlich kann es Krankheiten geben, die unbekannt sind, neue Infektionskrankheiten, auch bisher nicht entdeckte Störungen. Das ist aber selten. Daher wurde in einer ersten Annahme die Lähmung als Folge seelischer Probleme angesehen und von weiteren eingreifenden Untersuchungen abgesehen.

Im Bett nebenan Maria. Ungefähr gleich alt, gleich hübsch, ebenfalls blondgelockt. Ängstlich-bemühte Eltern. Julia und Maria hatten schon „Freundschaft“ geschlossen, Leidensgenossinnen. Die jeweiligen Eltern waren damit beschäftigt sich gegenseitig Vorwürfe zu machen, weil sie annahmen, dass sie (und zwar der jeweils andere) schuld wären. (Da muss man gütig sein, weil sich Eltern immer als Schuldige an allem, was ihre Kinder haben, ansehen. Das ist beim krebskranken Kind ebenso („Hätte ich ihm nur die Handschuhe angezogen!“) bis zum frisch infizierten („Sicher hat es sich bei seiner Schwester angesteckt. Ich sollte die beiden trennen, wenn eines von ihnen krank ist!“) Überdies suchen die Eltern meist die Schuld beim jeweils anderen Elternteil. Das ist so, weil der Mensch immer Schuld beim anderen sucht und nicht bei sich, außer er neigt zu Depressionen.

Maria untersuchte ich natürlich ebenfalls. Das schreibt sich 30 Jahre später leichter, als es damals war. Denn das Team, das bei der Visite um mich herum stand, die Eltern und die Mädchen waren sich doch schon sicher, dass beide dasselbe haben. Wozu macht dann der Professor noch so einen Aufwand? Warum belästigt er das Mädchen, das ohnehin nicht stehen, oder gehen kann. Hat er nicht schon genug gesehen? Überdies war Maria in der Ambulanz mit dem Reflexhammer untersucht worden. Glaubte ich nicht an die Beobachtungen meiner Kolleg*innen? 

Die Untersuchung ergab: keine Muskeleigenreflexe (man kennt aus dem Fernsehen vor allem den Patellarsehnenreflex, der durch einen Schlag auf die Sehne zwischen Kniescheibe und Unterschenkelknochen ausgelöst wird) an der unteren Extremität, keine Kraft in den Beinen, keine Schmerzen, reduzierte Empfindlichkeit der Haut. Die Lähmung war aufsteigend, sie hatte an den Füßen begonnen, dann die Rückseite des Unterschenkels befallen. Die Hausärztin hatte einen seelischen Grund angenommen und zu einem/r Psycholog*in verwiesen. Dort hatte das Mädchen mehrere Therapiesitzungen absolviert, die Lähmung war weiter fortgeschritten. Am Tag der Untersuchung hatte die Patientin nur mit großer Mühe ihren Harn halten können, sie fürchtete, dass sie ihren Urin unwillkürlich absetzen würde. So präsentiert sich eine neurologische Lähmung. Von der bis dahin eher oberflächlich erhobenen Vorgeschichte kam es zum Nachbessern. Ich fragte nach einer infektiöse Vorerkrankung in den letzten Wochen, weil das ein Auslöser einer Autoimmunerkrankung sein kann. Maria hatte vor zwei Wochen einige Tage Fieber.  Damit war die Verdachtsdiagnose: Guillaine Barrèsche Lähmung. Hier bestand akuter Handlungsbedarf für Diagnostik und Therapie. Ob schnelle Gabe von Immunglobulinen mehr hilft, als wenn es dauert ist unklar. Nerven die nicht geschädigt werden, brauchen sich andererseits nicht zu erholen. Daher führte ich unmittelbar eine Lumbalpunktion durch und einer meiner Ärzt*innen vereinbarte eine elektrophysiologische Untersuchung. Beide Untersuchungen bestätigten die Verdachtsdiagnose. Jetzt hätte ich die Patientin auf eine andere Station verlegen können, so unter dem Titel: gehört nicht in die Psychosomatik. Das wollte ich nicht, ich war zu stolz auf meine Entdeckung. Ich war der häufigsten Falle in der Medizin entgangen. Die Diagnose aus dem Vergleich, aus der Ähnlichkeit. Da war ich mächtig stolz, wollte das Kind selbst behandeln. Liest sich auch leichter als es ist. Denn die Neurolog*innen wollten sich einmischen, nachdem sie sich in der Mittagsbesprechung wie immer sehr zweifelnd an meiner Diagnose gezeigt hatten. Schmecks, dachte ich mir, erst lästern und dann haben wollen. Nix da.

Die Geschichte hat ein erfreuliches Ende. Sie ist eine positive Geschichte. Für mich sowieso, aber auch für die beiden Mädchen. Sie wurden bei gesund. Die eine, weil wir den Eltern erklären konnten, dass ihr Kind schon geschlechtsreif ist und dass man nie, absolut nie gegen die erste Liebe sein darf. Die andere, weil wir das Richtige gemacht hatten und sie Glück hatte. Es hätte bei Beiden auch anders kommen können.

Nun ist das lange her. Diese Heldengeschichte ist für meine Kinder heute genau so lange her, wie für mich als Kind Stalingrad, oder der österreichische Bürgerkrieg 1934. Was bleibt? Die unbedingt nötige Beschäftigung mit den Patienten als Vermächtnis, die Lust am Erheben, Untersuchen und behandeln. Das bleibt. 2020 ersetzen Apparateuntersuchungen den Reflexhammer – die Freude am Wahrnehmen und daraus Schlussfolgerungen ziehen, die kann einem Arzt niemand nehmen. Sie bleibt.