Mittwoch, 5. Februar: Valparaiso

Der letzte Tag vor der halben Pazifiküberquerung von Festland Chiles zur Osterinsel. Noch einmal festen Boden unter den Füßen haben vor fünf Seetagen. M. hat Erinnerungen an Valparaiso, ich kaum. Die Stadt empfängt mich mit einem Sonnenaufgang über den nahegelegenen Bergen, die bunten Häuschen werden von der aufgehenden Sonne beleuchtet. Leider ist in der Stadt Alltagskrieg – alles ist verbarrikadiert, wie wenn geschossen würde. In der ganzen Stadt kein ATM = Bankomat, keine Bank, Angst und Armut. Was ist aus Chile geworden? Das Land der Träume, das Land der Familie Allende, der Revolution, der furchtbaren Diktatur Pinochets.

Wir haben Zeit. Keine Tour, keine Termine, kein Stress. Um 06:15 aufwachen und gegen den inneren Schweinehund auf Deck 11. 6500 Schritte, heute habe ich das IPhone mit, wegen der Fotos der erwachenden Stadt. M. meint, dass eine Stadt, die um 23 Uhr noch wach ist, erst um 10 wiedererwacht. In der Tat gehen wir um ½ 11 raus, angenehme Shuttle Busse bis Hafeneingang, dann zu Fuß. Zirka 3 – 4 Kilometer, dann waren wir im Stadtzentrum unterwegs. Am Weg Straßenverkäufer*innen mit Dingen des täglichen Bedarfs, wie Töpfen, Bürsten, Kämme, aber auch Obst und Gemüse und Empanadas. Wir haben 2000 Pesos vom letzten Mal, wir suchen einen Bankomat. Es gibt keinen. Nur eine Filiale der Western Union, aber die geben kein Geld aus. Als ich danach frage ist die Dame hinter dem schusssicheren Glas empört.

M sagt: „Ich kenne das Bankenviertel, dort kriegen wir Geld.“ Unterwegs sehen wir viele Geschäfte. Es gibt keine Auslagsscheiben stattdessen metallene Verschläge. Die sind zusätzlich mit Stahlträgern bewehrt, bei Movitel, einem Mobilfunkanbieter, ist sogar vor diesen beiden Hindernissen noch eine Stahlwand in der Höhe von 2,50 Meter angebracht. Die Wände sind mit Parolen besprüht in denen der Tod dieses, oder jenes Menschen angedroht, oder gefordert wird. Die Eingänge zu den Supermärkten sind nur so weit offen, dass eine gebückte Person hineingehen kann. In der Apotheke, die wir aufsuchen gibt es nur einen Schlitz, durch den man mit der Apothekerin sprechen kann, das Lokal absichtlich verschmalt, so dass jeweils ein bis zwei Kunden anwesend sein können. Man kann selbst kleinste Beträge mit der Kreditkarte zahlen, Bargeld ist vielleicht selten geworden, wie haben nirgends eines gesehen. Immanuel erzählt uns danach, dass er für das Wechseln von US$ eine ¾ Stunde angestanden ist. Viel dürfte er nicht gewechselt haben, denn er hatte schon wieder keine Pesos. Dann ging unser Privatgelehrter noch in ein Hotel, um seine Emails zu checken und zurück aufs Schiff. Am Tag danach, also heute, sitzt er in der deutschsprechenden Rauch- und Beschwerdegruppe am Deck 9. Es ist ein Tisch, der schlechte Energie ausstrahlt. Immanuel, der von dort kommt und sich auch wieder dort hinsetzt sagt, dass er froh ist, dass nun Südamerika vorbei ist. Dasselbe hat er bei Mittelamerika gesagt. Voraussichtlich wird er das bei jeder Destination sagen. Irgendwann ist dann die ganze Kreuzfahrt vorbei.

M. findet eine Siebdruckerei, die jetzt auch ein Co-working Place ist. Ein entzückendes Kaffeehaus mit einer Kunstausstellung der Drucke im 1. Stock. Wir nehmen eine chilenische Ribiselschaumtorte und eine in der zwei Arten Dulce di leche sind und einen Moccahino. Wir sitzen eine Stunde dort, ein amerikanisches Pärchen kommt herein, sie hat ein Nasenscheidewandpiercing und Dreadlocks, weiche, bunte Hosen und einen skeptischen Blick, er hat kurze Hosen an. Beide legen ihre weichen Hüte aus Funktionsmaterial auf den Tisch. Ich mach’s ihnen nach und lege meinen neuen Panamahut ebenfalls auf den Tisch, M. stülpt ihren drüber. Wenn das meine Mama noch erlebt hätte! Ein Hut am Tisch war eine schwere Sünde. 

In der Zeitung El Mercatio sind wir auf der Titelseite. Unerwartet kamen zwei Kreuzfahrtschiffe, die in San Antonio hätten landen sollen, nach Valparaiso: der Hafenmeister sagte stolz, dass man immer auf Eventualitäten vorbereitet sei und gerne helfe. Der Bürgermeister fordert auf zu den Gästen freundlich zu sein. Sie würden gut für die Wirtschaft sein. 

Ich lade über WLan meine Musik aus der Cloud, im Kaffeehaus scheint die Welt in Ordnung zu sein: es sitzen Gäste um uns herum, essen, plaudern, trinken Kaffee. Man kann durch die Fenster auf die Straße sehen. Raucher sitzen vor dem Kaffeehause, ihnen wird serviert. Der Himmel ist blau, die Sonne erreicht den Zenit. Ein Holzschnitt auf dem eine Markt abgebildet ist hängt an der Wand. Wir fragen danach. Drei Menschen sind in der Druckerei: Ein zirka dreißig Jahre alter, bärtiger Mann mit Schürze. Ruhig und gelassen schaut er von seinem Laptop auf: „Oben,“ so sagt er: „oben, gibt es eine Mappe mit Drucken, die kann man kaufen.“ Die hatten wir gesehen, der den wir wollten war nicht dabei. Ein vielleicht fünfzigjähriger Mann mit zwei Handys telefoniert mit dem Künstler. Nein, er kann nicht vorbei kommen, nein, sie können das Bild ohne ihn nicht verkaufen. Es wird angeboten uns zu einer Galerie zu fahren, dort gäbe es das Bild. Das will ich nicht. Nicht in einer so auffälligen Stadt mit einem fremden Mann 15 Minuten nach unbekannt fahren. Dazu bin ich zu feig. Wir haben ein Foto gemacht, das muss reichen. 

Am Platz auf dem wir vor drei Jahren einer Musikaufführung alter Männer zugehört haben und dabei die Busse verfluchten, die gegenüber an- und abfuhren ist es stiller als damals. Einige Touristenlokale haben Tafeln aufgestellt. Wahrscheinlich haben sie dieselbe Zeitung wie wir gelesen. Das Kaufhaus auf der anderen Straßenseite ist verrammelt. Ich sehe das Rathaus als Bank an und gehe hinein. Innen ist es dunkel, alle Fenster sind mit Spanholzplatten verdeckt. In der Esmeralda, die einzig gekrümmte Straße Valparaisos gibt’s viele Lokale. Ein peruanisches Lokal empfängt uns: Sazón Nazca in der Esmeralda 1103. Zuerst zwei Pisco sauer. Ich kann’s noch nicht fassen, ich dachte Pisco wäre eine spezielle Frucht, stattdessen ist es eine Traube. 

Gemeinsam nehmen wir ein Trio aus Fischceviche, danach ein Filet Mignon und ein Glas Rotwein. Es geht nicht, dass ich im Land des Rotweins keinen trinke. Das Lokal füllt sich schnell. Drei Geburtstage werden während unsres Mittagessens gefeiert, die Menschen lachen. Am Christophoro Colon angekommen nehmen wir ein Taxi. Der Patron hatte 20 US$ schwarz zu einem mäßigen Kurs gewechselt. Sonst hätten wir keine Pesos gehabt und hätten zu Fuß gehen müssen.

Was ist aus Chile geworden? Revolution und Gegenrevolution, Demokratie und anscheinend ist der Gesellschaftsvertrag gescheitert. Es muss Kriminalität bestehen, wir sehen keine Polizei im Gegensatz zu Arica wo überall Polizei war. Die Menschen scheinen sehr arm zu sein. Der einst schönste Ort Chiles, die Künstlerstadt, die noch vor drei Jahren so prächtig war (allerdings auch schon gefährlich) und letztes Jahr zum Teil verbrannte, was ist geworden? Der Ort Pablo Nerudas, Isabelle Allendes, die bunte Stadt am Meer mit den Liften in die Oberstadtscheint kaputt.
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