Seetage 28.02. – 02.03.2020: Träume - die Zweite: 1.3.20

Träume sind Schäume“, sagte der Dichter. Für S. Freud waren sie die via regia zum Unbewussten. Für mich, der sie auf dieser Reise seit langer Zeit wieder jede Nacht notiert (nicht mehr wie früher auf einem Block, sondern mit dem Handy: Notizen) sind sie Ergänzungen des Wissens, ein anderes Wissen.

Da ich annehme, dass fast alles, was wir als wahr und richtig erkannt haben, Konstruktionen sind – vom Atommodell Nils Bohrs (das heißt schon so) bis zu sozialen Regeln, glaube ich auch dass meine Träume ebenso Erscheinungen, Wahrheiten und sogar Wahrträume sein können. Ich weiß ja nicht, ob es das gibt, was ich sehe, höre, oder berühre. Immer sind es meine Sinnesorgane, verbunden mit meinen Erfahrungen und den Vergleichen, die ich ohne zu wollen anstelle, die mich etwas wahr-nehmen lassen. Meine Wahr-nehmung erzeugt meine Wahrheit und ist daher ausschließlich meine Wahr-nehmung. Insofern können „objektive“ Befunde und die Intersubjektivität meine Wahrnehmung verbessern. Weil auch diese, wie zum Beispiel in der Medizin, auch wieder Werte sind, die auf Modelle zurückgehen und auf Studien in denen mittels Wahrscheinlichkeitsrechnungen Verteilungen und Normwerte ermittelt wurden, sind auch diese Konstrukte, die auf Gesundheits- und Krankenheitsmodelle zurückgehen, auf Annahmen über Ursachen und Annahme-Moden. So lese ich seit zehn Jahren, dass fast alles genetisch sein soll. Angeblich gibt’s auch Gene, die für das Dickwerden und -sein verantwortlich sind. Am Schiff mache ich eine gegenteilige Beobachtung: es gibt zwar Menschen, die zum Dicksein neigen – das ist stabil. Sie sind historisch im Vermehrungsvorteil. Hier am Schiff gibt’s zu viel Essen. Daher werden diese dick. Schlussfolgerung: nicht die Genetik hat sich geändert, oder wäre der Angriffspunkt, sondern Essen und Trinken. Kann genauso falsch sein, kann genauso Mode sein – vor allem: warum beschäftigt mich das so und alle mit denen ich rede?

Warum sollte ich meine Träume nicht als ebenso wahr werten, wie alles andere? Nehmen wir den heutigen aus der zweiten Nachthälfte, denn so eine gibt’s scheinbar bei mir.

Ich bin in einem Schigebiet. Die Wiesen sind fast aper, aber ich weiß, dass es ein Schigebiet ist. Ich fahre mit dem Bus ins Tal, zum Dorf. Dort treffe ich Lilli. Wir sollen nach München fahren, das weiß ich. Also steigen wir mit allem Gepäck, das aus alten Pappendeckelkoffern und neuen Rimovakoffern besteht, in denselben Bus, mit dem ich gekommen bin. Als wir wieder im Schigebiet, auf der Alm sind, fällt mir auf, dass wir ja zum Bahnhof, oder zum Flughafen hätten fahren sollen. Alles Gepäck steht auf der Straße, Lilli ist offensichtlich müde und lustlos. Ich entschuldige mich, da kommt der gleiche Bus wieder, er hat nur umgedreht. Die sehr attraktive Busfahrerin hat ein Headset an, wie im Theater die Schauspieler, oder die Techniker es haben. Wir steigen in den Bus ein, vorher gebe ich das Gepäck unten rein. Allerdings kann ich die Klappen nicht mehr schließen, die Busfahrerin ist schon angefahren, sie lässt die vordere Tür des Busses offen, ich versuche aufzuspringen, aber sie wird schneller und grinst. 

Szenenwechsel: ich bin im Bahnhof Wien Mitte. Ich kenne mich nicht aus. Ich weiß, dass ich mich auskannte als es dort das AEZ gab und darunter die Stadtbahn fuhr, lange Jahre bevor es die U-Bahn gab. Ich bin auf der Rolltreppe und will eine Bahnkarte mit dem Handy lösen. Es gelingt nicht. Dann bin ich in einer Buchhandlung und habe plötzlich das Handy der Busfahrerin aber ich kann’s weder entsperren noch bedienen. Ein Mann in der Buchhandlung fragt mich nach einem Detail des französischen Impressionismus und ich gebe ihm bereitwillig und kompetent Auskunft. Dann bitte ich ihn mir sein Handy zu leihen, da ich eine Bahnkarte brauche, aber er verweigert das. Ich erwache in der sicheren Gewissheit, dass ich ohne Handy nicht mehr leben kann und erschrecke.

Leicht ist es hier die Tagesreste abzuschilfern: Ich will ein Hotel in Sydney buchen, weil ich nicht nach dem Theater aufs Schiff zurückwill. Das geht nur mit Handy. Ich will wissen, ob wir in Colombo einen Flug nach Israel nehmen – das geht nur mit Handy, und so weiter, und so weiter. Außerdem haben viele Mitreisende ununterbrochen das Handy mit, obwohl es am Schiff fast unnütz ist.

Die nächste Ebene ist schon mühsamer: was mache ich mit Lilli? Was mache ich mit der Busfahrerin? Ist sie die junge Frau, der ich nachlaufe, sie aber nicht erreichen kann? Was mache ich im Bahnhof Wien Mitte, außer, dass ich am 26. Mai aus der 2. Auflage meines Buchs: Lust aufs Alter dort lesen werde? Zuletzt: wieso bringt mir meine Bildung nicht so viel, dass mir der Mann, dem ich Auskunft gab sein Handy borgt?

 

In dem Krimi, den ich lese: Dave Warner: „Die Schlingen der Schuld“ spielen Handys eine entscheidende Rolle. Bilder werden gemacht und geschickt, der Detective redet seiner Mutter ein, dass er sie am Handy besser erreichen könne als ohne, nachdem sein Vater einen Schlaganfall erlitten hat; ein präsumptives Mordopfer, der einst ein Täter war, bekommt ein Foto, das ihn erschreckt – und so geht’s dahin. So als ob man einen Krimi ohne Handy heute weder erfinden noch schreiben könnte. Alles passiert mit dem Handy, Fotos zur Beweissicherung, Verbindungsüberprüfungen, Geschäfte. Als Peter nach unserem Schifahren in Zermatt sein Handy im Zug liegen ließ, war er so erstarrt und in sich gekehrt, abweisend und fremd, dass er kein Wort mehr mit mir sprach, sich nicht helfen, oder beruhigen ließ. Er sagte, dass er ohne Handy völlig aufgeschmissen wäre. Der Apple Konzern wurde soeben wegen Handys, die zu kurz halten verurteilt. Das scheint die nicht zu stören. Sie saugen Daten ab und dafür können wir Fotos machen und Videos, uns vernetzen, Kontakte quer über und zwischen Kontinenten halten, die früher ein Telefonfräulein, Anmeldungen und Gebührenverrechnungen verlangten, aber wir haben uns verändert. Wir sind abhängig und durchsichtig geworden. In den Terminals der Häfen in denen wir landen, sitzen die Mitreisenden und updaten, laden und beschäftigen sich mit dem Handy, anstatt Landschaft, Natur, Menschen und Gerüche des Landes wahrzunehmen. Stattdessen sind sie in einem Traum, der Handy heißt, oder einer Realität, die sie vielleicht als wahr wahrnehmen. Sie nehmen an, dass das was sie am Handy sehen, seien es Bilder oder Filme, Menschen, die sie kennen, oder gern kennen würden, Nachrichten, die sie lesen – das wären Wirklichkeiten. Sie würden das Wahre widerspiegeln. Vielleicht erzeugen sie Wahrheiten, aber sie könnten denken, dass das die Wahrheit ist, die sie in ihrer Wachzeit wahrnehmen und nicht ein Traum, der für sie, oder von ihnen erfunden wurde. Junge und alte Menschen sitzen bisweilen zusammen und schauen aufs Display. Sie teilen Wirklichkeiten, die vorher gemäß ihren bisherigen Einstellungen, abgerufenen Seiten und Interessen für sie und nur für sie so vorbereitet wurden. Sie werden in ihren Vor-urteilen bestärkt. Meine Tischnachbarin Annemarie, eine äußerlich nette, blonde Frau Anfang 70 wurde kürzlich meine Facebookfreundin. Dann bekam ich andauernd AfD Nachrichten von ihr. Bestenfalls Thilo Sarazin. Sie ist nicht mehr meine Facebookfreundin. Aber was macht man, wenn man so wie ich einen FB Freund zufällig in Wien auf der Straße trifft, ihn grüßt und der andere schaut pikiert weg? Ist das dann ein „Freund“, eine Bekanntschaft, oder ein Traum?
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