Donnerstag, 23. Jänner 2020 - Cristobal, Panama

Selten so eine zerstörte Stadt gesehen: ausgebrannte Häuser, kein einziges Geschäft offen, kein Hotel, kein Restaurant sichtbar. Der einzige Supermarkt bis auf einen kleinen Schlitz völlig mit Scherengittern und dunklen Scheiben geschützt. Es schaut wie Brooklyn in den Siebzigerjahren aus. Das viele Geld, das täglich am Kanal eingenommen wird, kommt vielleicht den Erbauern und den Pächtern zugute, vielleicht auch noch der einen, oder anderen Familie – in Cristobal wird es weder eingenommen noch ausgegeben. Angeblich will man die Menschen hier absiedeln, weil sie oft Überschwemmungen ausgesetzt sind. Wenn das stimmt, dann wusste unser Fremdenführer nichts davon, der nur immer wieder sagte, dass Politiker einer eigenen Art angehören.

Bei strömendem Regen kommen wir an der atlantischen Küste des Panamakanals an. Wir sind bestens vorbereitet: Professor Scopolitti hat uns die Geschichte der Kulturen und der Eroberung der Kanalregion durch Balboa erzählt. Bei der letzten Durchquerung hat uns die linkssozialistische Redakteurin, die am Schiff Vorlesungen hielt, über das Arbeiterelend und die Todesopfer bei der Errichtung des 1. Kanals erzählt, der am 8.8.1914 fertig gestellt war. Allerdings begann der 1. Weltkrieg am nächsten Tag, so dass die Eröffnung verschoben werden musste. Wir kennen die Steigung von 24,9 Meter, aber auch das Schicksal F. de Lesseps und die imperialistische Politik der USA rund um den Kanal bis er von Jimmy Carter an Panama übergeben wurde. Aber auf den Zustand Colons an dessen Hafen Cristobals wir liegen, hat uns niemand vorbereitet, das mussten wir selbst erleben: furchtbare Armut, offensichtliche Kriminalität, die von Devin noch unterstrichen wird. Er ist imt dem Taxi gefahren. Der Fahrer hatte einen Baseballschläger neben sich, verschloss das Taxi sobald sie losfuhren und sagte: „Fürchten sie sich nicht, ich kann das!“ Die Frauen sitzen unter einer Plane und verkaufen schlechte Panamahüte, Puppen und selbstgemachte, teilweise vielfärbig gehekelte Ketten und stammen aus einer der lokalen Indiostämme.

Wir steigen in einen Bus. Da wir den Ausflug für Sportler*innen mit Kajakfahren genommen haben, haben wir den kleinsten aller Busse. Zu unserer Freude startet er erst um 11:15 (daher geht sich vorher Frühstück, Sporteln und alles andere aus) und es sitzen nur 14 Personen im Bus. Wir fahren durch eine trübe Landschaft in der es viel Bäume, Palmen und Büsche gibt. Die einzige Siedlung ist hinter Mauern auf denen Stacheldraht angebracht ist und an ihrem Ende sehen wir ein Minarett und eine Mosche. Bald danach kommen eine Koranschule und noch eine solche Siedlung. Das seien, so sagt unser Führer, Händler aus der zollfreien Zone. Die Häuser würden etwa 500.000.- US$ kosten. Villengefängnis, kommentiert Marguerite trocken.

Wir werden zur Aqua Clara Schleuse gebracht. Gut gepflegt, am Büffet gibt’s sogar Kaffee ohne Milch und einen Karottenkuchen. Ein Mann in Uniform kommentiert die Durchschleusung eines leeren, grünen Schiffs und wir bewundern die in Italien hergestellten Schleusenschiebetüren, die jede etwa hunderte Tonnen wiegt. (Wer’s nicht glaubt, einfach auf Wikipedia nachlesen.) Wir sehen einen Film über die Errichtung des Kanals. Am schönsten war aber das kurze Zusammensitzen mit Blick auf den künstlich aufgestauten Gatunsee. Wir sprechen über Ereignisse in weiter Zukunft und plaudern inmitten vom Urwald über Hochzeit, Urlaub und die kommenden Jahre. Fischreiher fliegen über uns, Seeadler nutzen die Thermik und sind am grauen Himmel zu sehen, wie sie ihre Kreise ziehen.

80 Minuten später fahren wir ins Hotel Melia am Gatunsee. Es wurden beim Bau des ersten Kanals (Eröffnung 1914), um den Aufwand der Grabungen zu verringern bis zur Höhe von 26 Metern überm Meeresspiegel die Landschaft geflutet. So konnte mach sich viele Kilometer Grabungsarbeiten ersparen. Heute schauen die ehemaligen Hügel wie grüne Inseln aus. Unter dem Wasser stehen angeblich Kirchtürme und im Wasser leben Fische. Wir besteigen Plastikkajaks in gelb, rot und blau. Ein italienischer Herr mit britischer Frau steigt als erster ein und fährt sofort mit dem Kajak weg. Er kommt aus Sirmione am Gardasee und hat die Anweisung so verstanden, dass er lediglich in 90 Minuten wieder den Kajak zurückgeben muss. Die Trillerpfeife unseres Führers William ertönt. Zusammenbleiben heißt der Befehl, der von Lorenzo dem Beauftragten des MyCosta Büros unterstützt wird. Der Italiener ist nicht erfreut. Gruppendynamisch trickreich hat sich die sich schön fühlende, alleinreisende Spanierin mit blond gefärbten Kräusellocken, die sich einen blauen Badeanzug angelegt hat und so ihre schlanke Figur zur Geltung bringt, William geschnappt und gibt sich nun die „Räuberhauptmannsfrau“. Gleichzeitig mit uns startet auch Jürgen, den wir kürzlich im Whirlpool kennengelernt haben  - ein Diabetiker mit etwa 140 Kilogramm Gewicht und einem herzlichen Lachen – mit einem sogenannten „Katamaran“, der ein umgebautes Stahlschiffchen für zirka 25 Personen ist und einem kleinen Außenbootmotor hat, auf den See hinaus. Wir fahren dem lauten, stinkenden Boot hinterher. Noch unterhaltsamer ist, dass unsere Rucksäcke mit der trockenen Kleidung, die wir bis dahin immer im Bus ließen auf einem anderen Motorboot rund um uns geführt werden. Im Boot steht ein Wildnisskenner, der William immer wieder etwas zeigt. Natürlich laut rufend. Die Trillerpfeife Williams macht ein Übriges: alle Vögel fliehen, manche werden von den Menschen am Katamaran vielleicht gesehen, wir sehen drei Affen in einem Baum und einen blauen Reiher. Das war’s. Die Landschaft ist schön, der See ruhig und es hat zu regnen aufgehört. Wir lernen dann den Italiener besser kennen, der den Rest der Zeit am See mit Beschimpfungen Williams zubringt. Er erklärt William, dass die Vögel verscheucht werden; dass er nicht hergekommen ist, um nichts zu sehen; dass er Fotos machen will und dass er die ganze Gruppe nicht braucht. Marguerites Wunsch Frieden zu stiften geht so weit, dass sie sich abwechselnd in beide Richtungen aus dem Boot beugt, Lorenzo die Lage erklärt, William beruhigen will und den neben uns paddelnden Schweizern den Grund der Aufregung näherbringt. Als ich sie ersuche im Lot zu bleiben, trägt mir das die Beschimpfung „Blünzlischießer“ ein, also übersetzt ein zwanghafter, unangenehmer Kerl zu sein. Ich genieße die Fahrt und mich stört weder der Italiener, noch habe ich Mitleid mit William. Das ist bei M. anders. Sie will William in Schutz nehmen. Jedoch: alles, was er erklärt, erklärt er nur einem Teil der Gruppe. Er ist vielleicht Fremdenführer, Gruppendynamiker ist er nicht. Englisch und Spanisch abwechselnd zu sprechen, macht sein Leben auch nicht leichter. Ich habe einfach weniger Mitgefühl, als M.

Nach dem Umziehen und einem kalten, einheimischen Bier in einer 0,33 Liter Dose, fahren wir zirka 100 Meter mit dem Bus auf den wir 30 Minuten gewartet haben, oder besser – wir haben gewartet bis alle da waren – und machen im strömenden Regen (es ist Trockenzeit, aber es ist laut William vor allem an der Pazifikküste trocken) einen Waldspaziergang. William geht vor und erklärt. Davon kann ich nichts berichten, er war mit 3-5 Personen unterwegs, drehte sich nie um und ich wartete gern auf M. Ich sehe wilde Bananen, blühende Bäume und rote Blätter auf Stielen, die ich sonst nur in viel kleinerer Ausführung aus Blumenhandlungen kenne. Der Weg war einst ein Asphaltweg des Militärs, aber das ist lange her und wir versuchen mit unterschiedlichem Erfolg Lacken und zu tiefen Löchern auszuweichen. Ich habe die nassen Schuhe, die ich im Kanu trug, noch an, wir haben beide einen Regenschutz und kalt ist es nicht. Nur nass.

Wir wollten in Cristobal Steak essen gehen. Wir fragen Willibald welches Restaurant er empfehlen kann. Nach einigem Überlegen empfiehlt er das Radisson Hotel. Er scheint nicht überzeugt, dass man dorthin gehen soll. Er wohnt wahrscheinlich in Panama City, die wir wieder nicht kennen lernen. Die polnische Architektin Elisabeth, die wir beim Frühstück getroffen haben, war schon dort, um Geld hinzubringen. Sie sagt, dass die Stadt hässlich ist. Wozu dann hinfahren. Hässlich war’s in Cristobal auch. Wir wüssten nicht einmal wie man vom Schiff in die Stadt kommt. Wir sehen keine Taxis vorm Schiff, am Hafenausgang wo in der Früh Taxis standen, sehen wir nur mehr Zöllner, Militär und Polizei und keine Passanten weit und breit.

Das passt gut zum ersten Eintrag in Google: „Kann man in Cristobal spazieren gehen?“, fragt ein Mann für seine Mama. Die eindeutige Antwort lautet nein, wenn sie auch relativiert wird und auf gleich gefährliche Kriminalität in des US-amerikanischen Städten hingewiesen wird. Vielleicht zeigt Detroit dieselbe Fratze des bösartigsten Kapitalismus, hier war das Elend inmitten großen Reichtums jedenfalls bedrückend.
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