Tokio - die letzten zwei Tage


Wieder habe ich Noah ausschlafen lassen. Sicher keine gute Idee. Um 11:20 klingelt das Telefon: wenn wir nicht bis 11:30 auschecken, wird wegen late-check-out 2.000 Yen zu bezahlen sein. Fluchtartig verlassen wir das Zimmer und sind um 11:29 an der Rezeption. Dann suchen wir ein Frühstückslokal. Noah will zum „Ciel de Ponts“, zu dem von ihm ersehnten französischen Lunch. Das soll im Hochhaus einer Versicherung untergebracht sein in dem auch die U-Bahn Station ist. Wir suchen, wir fragen junge Männer in Businessuniformen – wir finden’s nicht. Langsam hangry steigen wir in die U-Bahn zum Bahnhof. Dort suchen und finden wir nach Befragung eines Plans und eines Sicherheitsmanns, der nicht Englisch kann, aber mit den Schultern rechts und links andeutet ein Lokal, das uns Udonsuppe serviert. Der Zug kommt exakt neben unserem Price-Hotel in Tokio an, wir werden uns nur umziehen müssen und 15 Minuten zum lokalen Chabad gehen, wo Tokios jüdischer Gottesdienst stattfindet.
Wir sind spät dran, baden aber noch, ziehen uns um und verlassen das Hotel um 17:05. Um 17 Uhr hätte der Nachmittagsgottesdienst begonnen. Mit dem Taxi kommen wir rechtzeitig vor Shabbatbeginn zum Tempel, der im Souterrain liegt und hören Reb Mendel die Thora interpretieren. Er ist ein wunderbarer Redner: man kann nicht sagen, dass er den Faden verliert, er hat keinen. Er wandert von einer Geschichte zur nächsten, manchmal kehrt er zu seinem Gedanken zurück, manchmal verliert er ihn. Er assoziiert sich von einer Geschichte zur anderen, hüpft durch die Thora, bittet den Vorlesenden aus dem Publikum eine jeweils andere Stelle aufzuschlagen und vorzulesen und dazu fällt ihm jeweils eine Geschichte ein. Er ist wie Ilja Ehrenburgs Lasik Roitschwantz oder Fritz Muliar, der jede chassidische Weisheit mit dem Satz: „Dass ich nicht vergesse Ihnen zu erzählen!“ einleitete. Des Rebben Frage ist: was haben die Juden in den sechs Stunden nach Pharaos Befehls mit all ihrem Hab und Gut und allen Tieren Ägypten zu verlassen, getan? Es ist bekannt: sie haben sich die Wertsachen der Ägypter geliehen, um so Sein Versprechen an Abraham zu erfüllen, dass sie nach 400 Jahren reich aus Ägypten ausziehen werden.
Das erinnert mich an meinen Großvater, der zwischen der Okkupation Österreichs im März 1938 bis zu seiner Flucht im September 1938 viel Geld verdient hat. Gemeinsam mit einem Studienkollegen, der bereits vor 1938 illegaler Nazi war und daher eine sehr gute Position bei der Polizei bekam, hat er jüdisches Vermögen ins Ausland widerrechtlich verschoben. In drei Monaten wurde Opa so reich, dass er ein Kapitalistenaffidavit bekam, mit dem er nach Palästina ausreisen konnte.
In Tokio wurden Talmudstellen zitiert, dem Rebben fallen Geschichten anderer Rabbiner ein, deren Namen aber ihm nicht einfallen und so erzählt er Geschichten in loser Reihenfolge. Oft schaut er auf die Uhr, um rechtzeitig Shabbes zu beginnen. Das Gebet beginnt. Sobald es so weit ist, sagt er fast zerknirscht: Jetzt beten wir! Die Gebete werden schnell abgespult, es geht zum Essen. Der jüngste Knabe einer Familie aus Florida ist während des Gebetes eingeschlafen, zum Essen wacht er wieder auf. Wir sitzen mit Menachem, der als Vorbeter fungiert hat, einem IT-Spezialisten aus Jaffa und einem russischstämmigen Industriemanager an einem Tisch. Der Manager hat ein Sportpoloshirt in verwaschenem Grau und eine rote Pudelmütze an. Menachem DAS klassische weiße Shabbat-Hemd. Noah versucht Menachem eine Frau aus Wien, die einen so feschen jüdischen Mann wie ihn suchen würde. Der russischstämmige Manager mit der Pudelmütze sagt, dass er alles kann, was eine Fabrik braucht. Wenn er mit einem Verkäufer rede, sei er Verkäufer, wenn er mit einem Techniker rede sei er Techniker. Dieser Tage fliegt er nach China, um eine neue Fabrik auf den Weg zu bringen, in Japan hat er bei zwei Fabriken nach dem Rechten geschaut. Er hat ein russisches Gesicht, Anklänge mongolischer Gesichtszüge, stark, harte Kiefermuskeln und den Körper eines Kämpfers. Dieser Tage wurde er sechzig Jahre alt, schaut aus wie 40 und wird sogar ein wenig rot, als die 50 Menschen im Raum ein Geburtstagsständchen ausbringen. Menachem ist ein feinsinniger Mensch: thorabelesen, ein Gelernter, wie man sagt, hellbraune Schneckerlhhaare von denen er erzählt, dass ihn eine japanische Kellnerin einmal ersucht hat, mit den Fingern durchfahren zu dürfen. Er wohnt näher zum Haus Channa als wir im Sheraton Hotel. Er erzählt eine lustige Geschichte. Er kam gleichzeitig wie der anwesende, große Engländer mit langem Bart, der neben dem Rebben am Ehrentisch sitzt, im Hotel an. Da er im Auftrag seiner Firma viel reist, hatte er Prioritystatus und wurde an einem VIP-Schalter eingecheckt. Beide hatten es eilig, um nicht zu spät zu Shabbateingang zu kommen. Der „Fromme“ (jedenfalls nach Uniform und Hochmut) hatte musste in der Schlange warten.
Ein Paar sitzt uns gegenüber: Er ein wenig schöner, hagerer Mann mit schwarzen, fettigen Strähnen, einer Baggyhose in verwaschenem beige, der obere Rand der Unterhose ist zu sehen. Er könnte jemenitischer Abstammung sein, jedenfalls Mizrachi aus Israel, sie hingegen eine japanische Schönheit mit perfekten Manieren. Sowohl Benehmen als auch Erscheinung so unterschiedlich. Vielleicht ist es gut für die Beiden.
Der Raum ist voll, anfangs bekommt nicht einmal der Schwiegersohn des Rebben einen Platz, weil Gastrecht über Hausrecht steht. Nach dem Kiddush darf jede und jeder sich vorstellen. Ich erzähle eine Geschichte, ich finde die passt. Sie handelt von einem Zwillingspärchen im Mutterleib: das eine Kind ist gläubig und erzählt dem kritischen, dass es nach der Geburt schön werden wird. Sie werden ihre liebende Mutter kennen lernen, sie werden essen, wachsen, die Natur genießen und so fort. Der andere zweifelt: noch nie kam einer wieder, es gäbe keine Mutter und wozu atmen, sie bekämen alles durch die Nabelschnur und das sei gut so. Die Diskussion der Zwillinge stellt eine Annähreung an einen G’ttesbeweis dar. Der Rebbe hat dieselbe Frage bei seinen Streifzügen angesprochen. Es wird verstanden. Noah sagt sehr liebe Worte über uns beide und stellt sich vor. Wir beide reden laut, deutlich und selbstbewusst. Begegnungen mit der Rebbezen, die sieben Kinder hat, die Älteste ist über 30, verheiratet und lebt in Hongkong, der Jüngste fünf Jahre alt und der Vergleich mit unserer Familie, runden den Abend ab. Das Dankesgebet wird verrichtet, wir gehen nach Hause. Der vorletzte Abend, Tokio ist in Shinagawa wo der Tempel betrieben wird und wir wohnen ruhig neben dem Bahnhof in einem kleinen Dorf in der an sich unübersehbaren Stadt. 
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