Die Jugendbewegung

Die Erziehung zum zionistischen Juden fand nicht nur in der Familie statt, sondern auch in einer linkssozialistischen Vereinigung, dem Hashomer Hazair – dem jungen Wächter. Dort wurde ich und alle anderen auf die Alyah (= Aufstieg) vorbereitet, die Wiedereinwanderung nach Israel. Wir sollten helfen das Land aufzubauen, junges Blut ins Land zu bringen. Ich wollte ein junger Kämpfer werden, sammelte die Abzeichen der Truppenkörper, Bilderbücher mit Helden und war entschlossen einmal Offizier im israelischen Heer zu werden. All das fand nicht statt. 

Ab 1960 war ich jüngstes Mitglied der Jugendorganisation der linkssozialistischen Zionisten (Mapam), die Hashomer Hatzair (Der junge Wächter) hieß. Wir trafen uns jeden Freitagabend jede Woche in einer Vierzimmerwohnung mit Toilette am Gang im 15. Bezirk, Storchengasse 21. Die Wohnung war im ersten Stock, der in Wien aus steuerlichen Gründen aus der Kaiserzeit Mezzanin heißt. Im Vorraum spielten wir Tischtennis, meist als „Radl“, das heißt sechs bis acht Mitspieler mussten jeweils den Ball annehmen, zurückschlagen und dann weiterrennen, um an der anderen Seite des Tischs, um den dann kommenden Ball zurückschlagen zu können. Das war spannend, der größte Feind war das Out und das Netz – und in meinem Fall die Größe, oder besser die Kleinheit. Ich sah gerade einmal über den Tisch, so dass mich jeder Ball überraschte und die Strecke von der einen Tischseite zur anderen sehr, sehr weit war. Ich lernte dabei sowohl rausfliegen – heute würde man sagen Frustrationstoleranz – als auch Tischtennis. Im Anschluss gab es zionistischen Unterricht (Peula), der von den älteren Mitgliedern vorgetragen wurde. Wir unterbrachen die natürlich ständig. Dann wurde ein quasi militärischer Apell (Mifkad) im Wohnzimmer abgehalten, den der Leiter Jacob Schönfeld, der aus einem israelischen Kibbuz kam, anleitete. Danach gab es ein Stück aufgeführt, das entweder den heldenhaften Aufbau eines Kibbuz nachempfand, oder die Erfindung der hebräischen Alltagssprache aus dem Bibelhebräisch erklärte. Oft wurden auch Erinnerungen an die Shoa dramatisiert. 

Wir spielten auf Deutsch, meine erste Liebe Vera Weiß war die zweite Theaternärrin. Manchmal schafften wir eine Probe unter der Woche, meistens war das schon auf Grund des für mich weit entlegenen Orts unmöglich, so dass die Schauspieler*innen den Text von hektographierten Seiten ablasen und durch etwas Betonung und Gestik das Stück zu interpretieren versuchten. Komisch „hektographieren“ muss man heute erklären. Man schrieb den Text mit einer mechanischen Schreibmaschine auf eine Wachsmatrize, die man dann in ein Walzengerät einspannte und mittels Drehung eines Hebels auf Papier bedruckte. Das klingt leichter als es war. Die Wachsmatrize war leicht zu zerreißen, das Einspannen in die meist tintengetränkte Walze rutschig und wieder rissgefährdet und das Papier neigte dazu sich zu stauen. Das Gerät wurde als kostbar angesehen, wie auch jedes Stück Papier und die Verwendung für einen Abend war Gegenstand von wiederkehrenden Diskussionen mit den „Erwachsenen“: es würde doch eine Kopie reichen, man könne sich ja das Skript gegenseitig reichen; wer soll das alles abschreiben?, oder auch: man könne das Stück kürzen die Zuseher*innen (Chanichim) würden doch ohnehin nach 20 Minuten unruhig. Demgegenüber standen unsere Werktreue und der Respekt vor den Autoren. Jedenfalls waren wir Regisseur*innen und Schauspieler*innen mit großem Ernst bei der Sache. In den Pausen der Vorbereitung unterhielten wir uns in einem Geheimcode, der aus Zitaten des Einpersonenstücks: „Der Herr Karl“ (Qualtinger/Merz) und dem Stück von Arthur Schnitzler: „Das weite Land“ bestand. 

Das hörte sich dann so an: Vera (das Manuskript des Stückes besehend): „Tja“ (O.W. Fischers häufigste Bemerkung in der Verfilmung, in der er den Herrn Hochreiter gab.) Ich: „Des warat zu meiner Zeit a ka Chefin g’wordn!“ (Herr Karl zu seiner Chefin, die ihn bat, Zigaretten für sie zu holen. Er fragt sie aber, ob sie die Zigaretten nicht selbst holen kann, wenn sie doch Mittagessen gehe.) Vera (Unsicher wegen des ideologischen Gehalts des ins Auge gefassten Stücks für die nächste Woche.): „Zuerst bin i mit de Hahnenschwanzler g’angen, dann mit den Sozis und bei de Nazis hat’s fünf Schülling geb’n.“) Diese Art der Besprechung konnte sich bis zur Stadtbahnstation Meidling ziehen, von wo Vera in Richtung Hütteldorf-Hacking einstieg und ich in die entgegensetzte Richtung nach Landstraße (Heute: Wien-Mitte) fuhr.

Inzwischen kam oft ein Nachbar, oder sogar der Hausmeister, um uns anzuklagen. Das Gemeinschaftsklo sei am Gang verstopft worden, oder dass Kinder Toilettenpapier anderer Parteien gestohlen hatten. Dazu sollten wir Stellung nehmen. Damals war das Toilettenpapier noch zumeist aus Zeitungspapier, das in Handarbeit in handhabbare Stücke gerissen und auf einem Nagel aufgespießt wurde. Später, als bereits Sechzehnjähriger 1967 wurde ich Rosh Ken (=Kopf des Versammlungsorts), also verantwortlich für den Betrieb unter hilfreicher Anleitung des 10 Jahre älteren Ernst Meir Stern, der leider vor Kurzem starb. Sommers und Winters waren „Urlaube“ (Machanes = Feldlager) geplant, die uns nach Neuberg/Schneeberg, Semmering und viele andere österreichische Orte, in Jugendherbergen führten. Mit 9 ½ Jahren war ich das erste Mal dabei. Bei diesem Wintermachane waren wir in der Jugendherberge in Neuberg/Schneeberg, der Waschraum befand sich im Nebengebäude. Lediglich die Jugendlichen wuschen sich, wir Kinder nicht. Meinen Koffer, den meine Mama vorsorglich gepackt hatte, hatte ich nicht geöffnet. 

Ich kam mit einer kratzenden Wollhose, einem Hemd, Pullover und nicht-wasserfesten Lederschuhen und verließ die Herberge in derselben Ausrüstung eine Woche später. Das Wechseln der Unterhose wäre zwar kein Fehler gewesen, aber mir war zu kalt, um mich umzuziehen. Nur ein einziges Mal habe ich den Waschraum betreten: ich sollte den großgewachsenen Jugendlichen fragen, ob das Wasser kalt sei. Das wurde als Mutprobe angesehen, meine Kameraden standen vor der Waschbaracke bereit zur Flucht und kicherten. Normalerweise sprachen die 5 – 12 Jahre Älteren nicht mit uns Kleinen. Unsere Gruppe hieß „Benjamin“ in Erinnerung des jüngsten Sohns Jakobs und Rachels in der Bibel und die Großen waren in der Gruppe Atid, oder sogar Bogrim – bereit in einen Kibbuz nach Israel zu emigrieren.

Die erhaltenen kleinformatigen Bilder zeigen mich bekleidet mit dem Stolz jedes Mitglieds – der blauen Bluse – die in einem Lied als Ehrenkleid des jungen Wächters besungen wird. Mir reichte sie bis über’s Knie und die Bluse erscheint wie ein Kleid. Komisch, dass ich mir damals fast nie klein vorkam. Ich war sprachlich gewandt, bei den verschiedenen paramilitärischen Übungen flink und schlau. Ich konnte komplizierte Knoten knüpfen, wusste allerdings nicht wozu sie gut sein sollten. 

Das Abschlussmifkad war einer der Höhepunkte der Woche am Land. An diesem Abend wurden Abzeichen verliehen, die Ältesten wurden zur Alijah (=Aufstieg nach Israel) freigesprochen und bekamen das rote Abzeichen mit Lorbeerkranz und einem kupfernen Davidstern in der Mitte, das Abzeichen der Bogrim.

Ich hatte das Feuer über: einerseits wurde der Platz mit Konservendosen eingegrenzt in die in Petroleum getränkte Jute eingefüllt wurde. Diese wurden zur rechten Zeit mittels einer Fackel in Brand gesetzt. Der Höhepunkt war erreicht, wenn den jungen Mädchen und Buben bei der Verleihung der Abzeichen die Eidesformel vorgesprochen wurde und ihnen der Schwur auf die israelische Fahne abverlangt wurde. In diesem Moment hatte eine solche Konservendose von der Spitze der hölzernen Empore, auf der der Schaliach und der Rosh Ken stand hinabzufahren und den aufgeschichteten Holzstoß zu entzünden. Das konnte keinesfalls geprobt werden, weder hatten wir genug Holz noch Petroleum. Alles war schwierig: die Spannung und Neigung des Drahts, an dem die Konserve hinabglitt, der Platz an dem sie in den Stoß hineinfallen sollte, umkippen und auf getränkte Jutegewebe fallen sollte, die als Brandbeschleuniger dienten. Ich zitterte das ganze Mifkad bis zu diesem erhebenden Moment und kann 60 Jahre später die hebräische Eidesformel auswendig.

Ich sammelte Abzeichen der israelischen Waffengattungen und Polizei. Ich erträumte mir mittels des Hashomers einen Ausweg aus meinem täglichen Anderssein in der Schule. Im Hashomer waren alle anders als die österreichische Umgebung, das vereint uns bis heute. Die Kinder kamen aus allen Schichten. Manche aus armen Arbeiterfamilien, manche deren Eltern in den Konzentrationslagern gewesen waren und nichts hatten. Manche wohnten in Gemeindebauwohnungen im 2. Und 10. Bezirk auf engstem Raum. Daphne Roth wohnt noch immer dort, sie war in der Gruppe meiner Schwester, also viel, viel älter (Dreieinhalb Jahre). In den Kleinfamilien sprach man nicht über die Kriegserlebnisse. Darüber hat Peter Sichrovsky ein vielbeachtetes Buch geschrieben, das diese Stimmung abbildet.

Im Hashomer entwickelten sich Freund- und Feindschaften, die bis heute lebendig sind. Rosi Kohn lädt mich manchmal ein, wenn ein*e Schomernikim zu ihr zu Besuch kommt, in Israel treffe ich den einen, oder anderen. Die Wiener gründeten den Kibbuz Shalom der 30 Jahre hielt und heute wiederbesteht. Manche die aus Wien mit großem Idealismus und vielen Hoffnungen hingingen, sind nach Wien zurückgekehrt. Die erste Liebe meiner Schwester Daphne, Michael wurde fromm und lebt mit vielen Kindern in Jerusalem (und nimmt scheint’s das Frommsein genauso ernst, wie damals den Kommunismus.). Manche verblieben, ihre Gesichter sind von schwerer Arbeit, der Sonne und der Anspannung an der Grenze gezeichnet. 

Viele sind noch in Kontakt mehr als ich. 50 Jahre später grüßen wir einander mit dem vertrauten Gruß des Hashomer Hatzairs: Chasak w’emaz (= Sei stark und tapfer) und zeigen dabei den Pfadfindergruß: Große beschützen die Kleinen.