Die vorangegangenen Generationen

 

Robert Vishniak gestaltete 1977 eine Ausstellung ein Bilderbuch und nannte es: Verschwundene Welt. Ich bin ein Nachkomme dieser Welt aus Galizien. Ich trage es in mir. Es ist mein Erbe, die Juden, die vor allem von Heinrich IV., Stiefvater des Reichs Vater Böhmens und Mährens in den Osten geholt wurden, um ihn urbar zu machen, Handel und Wandel in die leere Steppe zu bringen und die Randgebiete des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation zu fruchtbaren Kornkammern, Handelsplätzen, Tuch- und Kohleproduzenten zu machen. Bitterste Armut existierten neben großem Reichtum, Hass der Christen gegen die Juden und friedliche Kooperation, ab Josef II. und mehr noch unter Franz-Josef I. ab 1848 geeint unter diesem gütigen Fürsten mit Backenbart und ewiger Beständigkeit.

Die Kinder in Gorlice sahen ab Oktober – November kaum aus den für den Winter eingesetzten doppelten eisbeschlagenen Scheiben hinaus. Die meiste Zeit verbrachte man im Bett, das sparte Heizkosten. Es gab kein Fernsehen, kein Radio, keine Ablenkungen, nur jiddische Bücher und Lernen. Schuhe und Hosen waren schlammbedeckt, verkrustet und angefroren. Die feinen Leute hatten Galoschen, Zusatzleder, das man auf die Schuhe knüpfte, bevor man das Haus verließ. Die Städte waren schmutziger, als das Land. Bis zur Erfindung und allgemeinen Verbreitung des Wasserklosetts und der Kanalisation hatte man Bettschalen, oder -pfannen, je nachdem wie man sie nannte. Morgens und abends wurden sie nach einem lauten Ruf aus dem Fenster auf die Straße entleert. Dann flossen die Exkremente durch die Straßen in den Abfluss, so die Straße abwärts ging und ein Abfluss vorgesehen war, wie in der grazer Sporgasse. Vornehme Menschen benutzten Sänften, oder Kutschen. Alles andere war ekelerregend. Im jiddischen Stetl hielt man sich an die Anweisungen der Väter, die auf Thoratexte und deren rabbinische Auslegungen zurückgingen, die Gott Moses zur Beseitigung der Exkremente im Lager des Wandervolks gab. In Polen wurden sie auf die lokalen Gegebenheiten angepasst. In der Wüste mussten die Israeliten ihre Exkremente außerhalb des Lagers absetzen. Eine Verunreinigung des Trinkwassers war unter allen Umständen zu vermeiden, weswegen der Wasserträger nie gleichzeitig Mistmann sein konnte. Jede*r hatte seine Ausscheidungen abzudecken, weswegen in jüdischen Latrinen Erde, oder Sand vorgehalten wurde. Nach der Ausscheidung musste man sich die Hände waschen, ebenso vor jedem Gebet, jeder Mahlzeit und nach jedem Friedhofbesuch und dabei den Auftrag das zu tun in einem Gebet bekunden

Diese einfachen Hygieneregeln reduzierte die Säuglingssterblichkeit bei den Juden gegenüber der Umgebung. Das führte zu Hass und der Beschuldigung christliche Kinder zu ermorden, um ihr Blut in die Mazza einzubacken und somit zur Verfolgung und Ermordung unter dem Schutz der Kirche. Da in Polen der Boden im Winter friert, gab es Abtritte im Garten, oder Latrinen. Die jüdischen Gemeinden verkauften ihre Exkremente als Dünger an die Bauern, die diese auf ihren Feldern ausbrachten. Diese Regeln und die Ehehygiene des Judentums (Nidda) reichten aus, um die jüdische Bevölkerung anwachsen zu lassen. Die Pest verschonte jüdische Siedlungen weitgehend, da die Hygiene und die Absonderung von Frau und Mann Abstand zwischen den Menschen schufen. Nicht nur deshalb setzte man Juden- und Rattenwanderungen bis 1967 gleich, Eine Karte im DTV-Atlas der Weltgeschichte für den Gebrauch im Geschichtsunterricht in der Oberstufe, die die Wanderungen der Ratten und Juden in einem Schaubild zeigte, habe ich in einem Brief an den DTV Verlag beklagt. Der Plan wurde aus dem Buch genommen – eine meiner Heldentaten in der Entnazifizierung.

In Österreich – Ungarn wurden Mauern und Grenzstationen gegen Osten errichten, um Juden,  Zigeuner und Ratten nicht durchzulassen, weil man sie als Seuchenriskio identifizierte – so wie heute 2020 da ich diesen Text schreibe. Die Arier und die mit den strengsten Reinheitsgeboten wurden von den schmutzigen Abkömmlingen der Germanen und Kelten als dreckig angesehen. Es war und ist wohl so, als ob man die Juden für ihre Reinlichkeit bestrafen wollte. Neid ist eine Triebfeder. An sich ist Neid nicht schlecht, weil er Streben auslöst. Bei unerreichbar erscheinenden Zielen erzeugt Neid Wut und Hass. Vernichtungswut. Die Juden fürchteten sich zu Recht vor ihren polnischen Nachbarn. Unauffälligkeit nach außen - soweit sie nicht durch die Anordnung einen Judenhut, oder Judenstern zu tragen verhinderte wurde, war das oberste Ziel. Nichtvermischung durch Speisegesetze und Sexualverbot mit Nichtjüdinnen als zusätzlicher Teil religiöser Regeln war ein Weiteres. So mussten sogar Wanderverkäufer und Hausierer rein bleiben. Zusammenhalt unter den Juden war selbstverständlich, auf Reisen wohnte und aß man nur bei Juden. Lernen und studieren war der Alltag der Knaben, die neben den öffentlichen Schulen, in die sie mein Urgoßvater überraschender Weise, entgegen seiner orthodox-jüdischen Einstellung gehen ließ, noch den Talmud-Thoraunterricht zu absolvieren hatten. So konnten sie mit 14 Jahren fünf Sprachen: Jiddisch als Alltagssprache, Bibelhebräisch als Heilige Sprache, Polnisch für die Umwelt und die Schule, Latein und Griechisch, weil sie ab der Prima beide Sprachen lernen mussten. Rund um das Toleranzpatent Josef II. (2.1.1782) öffneten sich die Tore der Ghettos. Das hatte natürlich auch Auswirkungen nach Innen: Der Kontakt zur nicht-jüdischen Außenwelt führte nicht nur zur Blüte der sogenannten Ghettoliteratur ( zum Beispiel: Shalom Aleichem bis / hin zum jiddischen Dichter I. B. Singer der den Gipfel und Endpunkt dieser Literatur verkörpert.

Es existiert ein Bild meiner Oma aus dem Jahr 1901 auf dem man sie mit einer Ausgabe der zionistischen Zeitung im Kreise ihrer Kameradinnen sehen kann. In Befolgung des zweiten Gebots des 1. Buch Mose hätte sie sich gar nicht fotographieren lassen dürfen, da der Mensch nach Seinem Bild gemacht wurde und das 2. Gebot sagt: Du sollst Dir kein Bildnis machen (Eigentlich ein Verbot, das das Aufstellen und Verwenden von Götzen verhindern soll.) Mit einer zionistischen Frauenzeitung überdies, die nicht auf religiöse Inhalte fokussierte, sondern auf Fragen, ob die Juden einen eigenen Staat haben sollen, wäre sie in einem chassidisch en Haushalt ohnehin untragbar geworden. Die Wiedererrichtung Jerusalems, für die die Juden täglich beten, ist SEINE Sache und die SEINES Messias. Das Bild durfte nie in die Hände ihres Vaters fallen – das hätte eine innerfamiliäre Katastrophe ausgelöst!  

Die Begabten, wie der älteste Bruder meiner Oma: Maier Landau durften nach der Talmudschule die jüdische Hochschule, die Jeshiwa, besuchen. Schon als Student wurde er dem Brauch gemäß vor allem, um seine Existenz zu sichern, verheiratet. (Der sogenannte Jeshiwe Bocher zog zu den Eltern seiner Frau und wurde von diesen ausgehalten.) Die Mitstudenten erzählten Meir während der Hochzeit, dass seine Braut für verrückt gehalten würde. Ohne die Ehe zu vollziehen, machte er sich nach Hamburg auf, um nach Amerika zu gehen. Sein Vater wurde von Geschäftsfreunden, bei denen sich Meir in Hamburg Geld für die Überfahrt leihen wollte, informiert. Stehenden Fußes brach er aus Gorlice auf, fand Maier und brachte ihn zurück. Angekommen sperrte mein Urgroßvater Meir im Haus ein bis Bart und Schläfenlocken nachgewachsen waren ein. Meir lebte dann das „richtige“ Leben weiter: er wohnte bei seinen Schwiegereltern, führte den Eltern die Buchhaltung und besuchte die Jeshiwa. Aus der leider unglücklichen Ehe entsprangen zwei Kinder, Hermann und Mizzi, die beide mit ihren Partnern 1938 nach Israel flüchten konnten und selbst wieder je zwei Kinder hatten, nämlich Hermann (der sich schon am Weg nach Israel Yehuda nannte: Ori und Michal) und Mizzi, die zwei Söhne hatte, deren Namen ich vergaß. Diese Kinder machten typische Karrieren: Ori wurde hochrangiger Soldat und ist heute Militärberater, Michal lehrte Flöte in Kibbuzim und ist heute Software Ingenieurin in einer Versicherung. Meirs Kinder und deren Kinder blieben in Israel, wohingegen meine Eltern 1954 nach Österreich gingen. Es wurde ihnen die österreichische Staatsbürgerschaft wieder erteilt und so bin ich Österreicher und Israeli – beides mit Herz und Seele. 

Omas ältere Schwester hatte einen von zwei Weltkriegen und der nationalsozialistischen Judenverfolgung gezeichneten Lebensweg: sie heiratete und blieb in Gorlice bis 1940. Dann floh sie mit drei Kindern nach Russland, um den Deutschen zu entgehen. Im Russland herrschte nach der stalinschen Kulakenoperation Hunger. So ging sie zurück in die von Deutschen besetzte polnische Heimat und wurde 1943 mit ihrer Familie vergast. Ich erinnere die seltenen Momente, da meine Oma die letzten Briefe ihrer Schwester aus dem Ghetto in Krakau mir mit stockender Stimme auf Jiddisch vorlas und dabei weinte. Von dem Wenigen, das ich verstanden habe, ist mir der Versuch der älteren Schwester in Erinnerung geblieben, ihrer kleineren Schwester Mut zuzusprechen und Hoffnung auf bessere Zeiten zu machen. Zwei Brüder meiner Oma betrieben ab 1923 ein Schuhgeschäft in der Wiener Innenstadt. Sie flohen nach dem Anschluss 1938 in die Schweiz. An der Grenze wurden sie aufgegriffen und in Haft genommen. Nachts kam ein mitleidiger SS-Mann in ihre Zelle und brachte sie an die Grenze an der sie wenige Stunden zuvor aufgegriffen worden waren. Er wies ihnen den Weg auf dem sie illegal in die Schweiz kamen. Sie kamen in ein Lager und bauten schweizer Straßen. Der Jüngere ging 1945 nach New York und wurde Broker. Leo heirate eine schweizer Zahnärztin, Rachel, und zog ebenfalls nach New York, wo er als Taschner gut verdiente. Rachel nostrifizierte ihr Doktorat nicht, so dass sie in USA Hausfrau war. Ein Hilferuf ihrer Mutter befreite sie aus ihrer misslichen Lage: sie sollte ihrer Mutter im Haushalt helfen und den Kindern ihrer drei Brüder Nachhilfe geben. Danach war Leo in der Schweiz als Ausländer zur Untätigkeit verdammt und besuchte vormittags das Kaffee Central in Zürich zum Tarockspielen mit anderen österreichischen Emigranten, um sein Taschengeld aufzubessern. Rachel fand Anstellung beim Zürcher Schulgesundheitsdienst. Leo kochte für seine Frau, deren Vater und sich selbst. Widerwillig und ungern, daher schlecht. Moshe Raich, Rachels Vater, war der „Milchige“ (= Milchhändler mit einem kleinen Wagen, der glatt koschere Milch in orthodoxe Haushalte brachte) der Gemeinde Agudas Achim. Er kam täglich zum Mittagessen bis er leider unter den Bus kam, den er am Hin- und Heimweg nahm.