Der nächtliche Hirntumor 

Nachtdienste haben eine eigene Stimmung. Für den Zeitraum von 16 Uhr des einen Tages bis acht Uhr des darauffolgenden ist man mit bis zu 200 Patienten weitgehend allein, letztverantwortlich, obwohl morgen wieder alle alles besser wissen werden. Ganz stimmt das natürlich nicht, es gab und gibt Assistent*innen, Turnusärzt*innen, je ein Ärzt*in an den beiden Intensivstationen und einen Nachtdienst an der Kinderkrebsstation. Jedoch am Papier war ich für alles letztverantwortlich, sogar für die Evakuierung im Brandfall. Rund um Mitternacht machte ich Nachtvisite in allen Stationen. Meist frug ich nach den Neuaufnahmen (in der Steiermark: Zugänge genannt) und ob es ein Problem gäbe? Fieber, Beschwerden, alles was in der Nacht noch zu lösen wäre. Selten ging ich in Patientenzimmer, weil man an sich nicht grundlos die Nachtruhe stören will. Geht man jedoch hinein, merkt man, dass man meist willkommen ist. Die Kinder und deren Eltern sind nicht des Schlafes wegen im Spital. Erlebte „Überwachung“, Sorge und Nachschau werden fast immer geschätzt. Außerdem wecke ich schlafende Menschen gern, ganz im Gegensatz zu Marguerite.

Eines Nachts wird mir erzählt: ein junger Mann wurde nach 23 Uhr aufgenommen. Er hatte heute einen Mopedunfall, seine Freundin hat heute schlussgemacht, die Lehrstelle wurde gekündigt, weil er sie ohne Moped nicht mehr erreichen kann und die Eltern sind böse. Die genaue Reihenfolge weiß ich nicht, hier kann Jede*r seine Abfolge erdenken. Spätabends kam er mit akutem Schwindel in die Ambulanz der Klinik. Der diensthabende Assistent sagte zur Schwester: „Der ist einfach überlastet. An sich gehört er auf die Psychosomatik, aber die haben kein Bett frei. Deswegen lege ich ihn auf die Infektionsstation, morgen wird man weitersehen.“ Mein Interesse war groß: erstens war ich oft skeptisch, wenn die Geschichte zu „glatt“ war; andererseits lernte ich meine Patienten gern sofort kennen, sozusagen, wenn sie noch frisch sind. Zusätzlich war ich durchaus tatendurstig. Ich war eigentlich nach einem Tag, der um 05:40 begonnen hatte, schon müde, hatte viele Patienten gesehen, vielleicht an einer wissenschaftlichen Arbeit herumgedoktert und nun – bevor ich mich duschen ging und mich wenige Stunden unruhigen Schlafs erwarteten zu einer guten Nachtvisite bereit.  (Denn im Nachtdienst darf man zwar manchmal schlafen, aber man ist immer auf dem Sprung, wachsam, um sofort aufstehen zu können. Das erklärt warum man am nächsten Tag erschöpft ist und warum viele Nachtdienste, wie sie zu meiner Zeit üblich waren zu früher Sterblichkeit unter Ärzten beiträgt.) 

Die Schwester sagt: „Jetzt schläft er.“ Unerwartete Antwort: „Gehen wir hin!“ Schon am Schritt der Schwester kann man ihr innerliches Seufzen erahnen. Sie lehnt das ab. Sie will nicht, dass der Junge geweckt wird, sie findet das unnötig. Was würde in der Nacht denn passieren, man lasse ihm doch den Schlaf, er hat ohnehin schon genug mitgemacht. Dann der Oberarzt, der sich vielleicht profilieren will, aber vor wem und wozu? Auf Kosten der Patienten? Da wird die Diplomkrankenschwester zur Mutter, die ihr Kind beschützt.

Ich wecke den Knaben. Verschlafen steht er auf. Ich frage nochmals nach der Vorgeschichte, reden kann er eigentlich nicht, er ist zu müde oder vielleicht redet er schwer. Also gut, raus aus dem Bett. Neurologische Untersuchung: Gerade gehen, gerade gehen mit geschlossenen Augen, Unterberger Tretversuch (am Stand gehen), Einbeinstand, Muskelreflexe. In der Ambulanz wurde das alles nicht gemacht, jedenfalls steht auf dem mehrseitigen Vordruck, den man für die körperliche Untersuchung mittels Computer modifiziert und danach ausdruckt: Neurologisch unauffällig, wodurch unklar bleibt was wirklich untersucht wurde.

Wie dem auch sei: der Knabe weicht, wenn er mit geschlossenen Augen entlang des Bettes geht, nach links ab. Ich wiederhole die Untersuchung am Gang – dasselbe. Die Schwester sieht es auch. Der Knabe ist in normaler Bewegung, er macht das nicht aus Müdigkeit, er weicht einfach ab. Kann nicht gerade gehen. Er fühlt sich nicht belästigt, sondern ernst- und wahrgenommen. Als normaler Jugendlicher hat er das „Urteil“ des Ambulanzdoktors: „Überlastung“ als eine „Abschiebung“ in die Psychoecke empfunden, das subjektiv Schlimmste. Die Untersuchung nach Mitternacht ergibt aber eine Abweichung nach links, mehrfach reproduzierbar. Konsequenz: MRT des Schädels, Verdachtsdiagnose: Hirntumor. Ich rufe in der Radiologie an. Es meldet sich ein verschlafener Röntgenassistent. Seine Haltung: Abwehr, Abwehr, Abwehr. Warum könne das nicht bis morgen warten, woher der Verdacht? Androhung: Verbindung mit dem radiologischen Hintergrunddienst – also dem zu Hause schlafenden Facharzt, so als ob mir der die Flausen schon noch austreiben würde. Da muss man durch, das kann man weder abkürzen, noch verhindern, das ist so und das darf so sein. Da ich das MR-Schädel anordne und in dieser Nacht der Dienstoberste bin (Es ist so wie die Schuhe Aschenputtels sind, pflegte ich zu sagen, sie fallen allerdings nicht um Mitternacht ab, sondern nächsten Tags um acht Uhr früh, denn dann wird aus dem diensthabenden Oberarzt wieder ein Facharzt von Vielen.) ist Gegenwehr zwecklos. Sowohl der Radiologe als auch ich wissen, dass das Abwehrspiel nur dazu dient, dass er/sie wach wird, letzten Endes muss das MRT gemacht werden. Noch eine letzte Abwehrschlacht: wie hoch ist das Kreatinin (ein Wert über die Nierenfunktion, da das schwere Wasser, das im MR als Kontrastmittel verwandt wird, über die Niere ausgeschieden wird und daher bei eingeschränkter Nierenfunktion in entsprechend angepasster Dosierung gegeben wird.) Kreatinin war bei der Aufnahme bestimmt worden, Abwehrversuch fehlgeschlagen. Knabe ins MRT. Ich spreche die Bitte aus bei Rückkunft des Kindes verständigt zu werden.

Anruf ½ 2 Uhr früh: „Der kummt net z’ruck.“ Das war der Assistent, der das Kind aufgenommen hatte. Natürlich boshaft, weil er auf sich zornig war, dass er diagnostisch versagt hatte und mich das spüren lassen wollte. Die Geschichte dazu: Im MRT zeigte sich ein Tumor, der von den Strukturen im Seitenventrikel ausgeht, die das Gehirnwasser produzieren: Ein Meningeom. Das wurde gesehen, dem Knaben am Gang mitgeteilt und er wurde vom Radiologen an die Neurochirurgie verlegt. Jahrzehntelang habe ich die schonende Diagnosemitteilung unterrichtet. Die Realität dieser Nacht hat mich diesen Unterricht ab dann anders gestalten lassen. Ich nannte das: Blut auf den Händen und besprach mit den Studierenden, wie es sich in der Praxis abspielt.

Natürlich war das alles nur passiert, um meinen Schlaf zu schonen. Es war zwar verboten ohne mein Einverständnis einen Patienten in eine andere Klinik zu verlegen und gemein die Diagnose so mitzuteilen, aber scheinbar einfacher. Ich lag in meinem Dienstzimmer und wartete auf den Befund.

Der junge Mann wurde operiert. Das Meningeom ist an sich kein aggressiver, bösartiger Tumor, wenn er rechtzeitig operiert wird. Gefährlich macht ihn seine Lage im Gehirn. Ferdl wurde gesund. Auf meine Frage wie diese Nacht für ihn war, war er klar: Er sagte: „Es war das Beste, was mir passieren konnte.“ Ernst genommen zu werden und kein Psycherl zu sein. Das ist die Chance des psychosomatisch ausgebildeten Arztes: er darf auf Grund seiner Kompetenz in beiden Bereichen den Stempel „Psycho“ aufdrücken, aber auch löschen.