Oma in Österreich

1953 kam meine Oma aus Israel nach Österreich zurück. Es war ihr Land, sie war in der Galizien im habsburgischen Erblande geboren. Jeder Mensch erschien ihr in Wien als Nationalsozialist – so falsch war das nicht. Zwar bekam sie eine Wohnung in demselben Haus im ersten wiener Gemeindebezirk, aber statt in der Bel Etage (also im 1. Stock) im dritten und statt 6 nur 4 Zimmer mit Kabinett für Kanzlei und Wohnung und mit angeblich „denselben“ Möbeln, wie vor dem Krieg – nur waren die „zurückgegebenen“ Möbel schäbig,  abgewohnt und keineswegs dieselben. Oma war der sichere Hafen in meiner Kindheit, die durch Israel, in Wien wohnen bei den väterlichen Großeltern Irma und Berthold im dunklen Kabinett und die folgende Scheidung meiner Eltern von 1955 bis 1960 voll von Angst, Fehlverhalten und Schulversagen war. Oma lachte und herzte mich, wenn sie mich traf.

Süssla (Zyska) Blumenfeld, geborene Landau in Gorlice am 21.4.1891 geboren war DIE Großmutter. Eigentlich war sie 1889 geboren, aber sie wollte bei der Hochzeit jünger sein, als mein Großvater und machte sich daher in der Heiratsurkunde jünger. Das ging nach dem 1. Weltkrieg, es gab wenig Amtshilfe der ehemaligen Kronländer, die Geburt war im Rabbinat subsidiär ausgestellt und daher in Hebräisch. Die Ehe der Großeltern war eine Katastrophe – zwei Töchter kein Gelächter, sagte Opa Oskar oft und war trotzdem ihre große Liebe, obwohl sie der Sex schmerzte und sie ihm gerne einen Knaben geboren hätte. 

Sie rette mich (den ersten Buben als Nachkomme, der später einmal das Kaddischgebet nach ihr sprechen würde – was ich auch immer mache!) aus einem israelischen Kinderheim, in das mich meine Eltern 1953 gegeben hatten, als sie Österreich besuchten. Im Heim aß ich angeblich nichts und Oma nahm mich zu sich nach Hause und versorgte mich und meine Schwester Daphne. Ich soll eine Banane gegessen haben. Sie scheint der größte Genuss für mich und die zusehende Oma gewesen zu sein. Oma rette mich noch oft.

Meine Kleinfamilie kam 1954 nach Wien und wir zogen bei den Eltern meines Vaters ein. Aber das habe ich ja schon erzählt. Aus den Jahren meiner Vorschulzeit erinnere ich Dunkelheit, Angst, einen netten jüdischen Kindergarten und eine verzweifelte Mutter. Als sie Sonne sah, begleitete sie mich zum Kindergarten von der Heiligenstätterstraße über die Hohe Warte in die RuthgasseSie dachte als Israelin, dass es heiß sein müsste, wenn die Sonne scheint. Es war aber in Wien Spätherbst. Sie erfror sich die Innenseiten der Oberschenkel und diese waren danach immer rot geädert.

Ich erinnere an wenig Gutes. Die Szene in der mich Berthold Scheer, Spitzname Goscha, am 15. Mai 1955 im Garten des Belvederes auf seinen Schultern gehalten hat, damit ich Leopold Figls: „Österreich ist frei!“ hören konnte, kenne ich von einem Foto. Jedenfalls bin ich 1965 mit meiner „russischen Leica“ einer Zorki ausgerüstet zum Belvedere gegangen, um bewusst die Außenminister zu sehen, die damals zehn Jahre Staatsvertrag feierten

Omas Wohnung in der Wipplingerstraße 21 erinnere ich als hell und freundlich. Es war warm, die Wohnung lag mit der westlichen Fensterfront zum Tiefen Graben, sodass die vom Hauseingang im 3. Stock gelegene Wohnung noch sechs Stockwerke unter sich hatte. Das Hinabschauen machte Angst. Die Stiegen von der Hohen Brücke über den Tiefen Graben waren verboten. Meiner Mama soll – vor dem 2. Krieg, als sie ein Schulkind war – dort ein Exhibitionist aufgelauert haben. Die Stiegen waren für mich der Weg in die Unterwelt, die ich weder als Kind betrat, noch heute verwende.

Oma lud uns manchmal zu sich nach Hause ein. Da gab’s handgerührten Biskuit (Sie rührte die Ei-Zuckermischung mit einer Gabel stundenlang und ich durfte ein wenig aus der Schüssel naschen und sie am Ende auslecken – Salmonellenangst gab’s noch nicht.) Hühnerleber vermischt mit harten Eiern, Zwiebel und Kartoffel. Dieses ostjüdische Gericht habe ich in der Küchenschlacht (ZDF) nachgekocht und bin rausgeflogen. 

Zu lange gedünstetes Kalbfleisch mit Kartoffelpüree gab’s auch und etwas gezuckerten Salat. Vor allem aber willkommen heißende Stimmung und viel Liebe und Widerspruch – einfach echtes Ostjudentum auf Nobel. Manchmal gingen wir ins Dorotheum, damit Oma von anderen arisierte Teppiche und Besteck zurück kaufen konnte und am Weg in den Trzensniewski, wo ich Brötchen und eine Hühnerleberpastete bekam, damals mit Apfelsaft. Heute muss es 1-2 Pfefferonibrötchen sein mit einem kleinen Wodka und einem Pfiff – und Erinnerungen an Oma!

Ima arbeitete mit Papa im Geschäft am Allerheiligenplatz. Dort fand Kurt seine neue Liebe Friedl, die der Anlass für die Scheidung meiner Eltern war. 

Oma hasste Männer, außer ihren Mann und mich. Für mich war sie aber immer da – vor allem bis zu meiner Pubertät. Oma liebte die Natur und die Wiesen rund um Wien, besonders die Sophienalpe auf die ich in den letzten Jahren etwa 40 Mal/Jahr aufsteige. Dort fanden wir wilden Dille für Salzgurken, die sie in große Gläser genau einschlichtete, da die Gurken sonst lappig wurden. Sie stellte die Gläser dann in die Sonne auf der Fensterbank, damit die Gurken säuertenDann waren die Salzgurken Kosher schel Pessach – ich denke bei jeder dicken Salzgurke an Oma, so wie die Kommunistenkinder an das Maifest auf der Jesuitenwiese, wo es diese Gurken, wenngleich nie so gut wie die von Oma auch gab.  

Ich war ihr ersehnte männliche Nachkomme, so sehr war sie noch in dem Rollenverständnis ihrer Kindheit verhaftet. Sie hatte zwei Töchter und ihr Mann sagte oft: „Zwei Töchter kein Gelächter!“ Ich sollte kein Mann werden – das schon nicht. „Wo eine Frau geboren wird, soll lieber ein Stein geboren werden!“, pflegte sie in ihrem jiddisch gefärbten Deutsch zu sagen. Noch mehr als die Geburt einer Frau bedauerte sie allerdings die Pubertät der Knaben, wenn sie mich auch trotzdem zu meiner Bar Mitzwah geleitete und furchtbar stolz auf mich war, als ich Bar Mitzwah wurde.

Als Ima bei Opa nach der Scheidung als Sekretariatshilfe arbeitete, rettete Oma uns wieder. Sie nahm Geld von Opa und eröffnete für Mama ein Damenmodengeschäft: „Edith Moden“ auf der Landstraße Hauptstraße 123 in Wien 3. Aber das war schon 1960.

Während der Scheidung verfolgte Oma meinen Papa mit Furor. Es war so schlimm, dass ich erst nach der analytischen Therapie, die Teil meiner Ausbildung zum adlerianischen Therapeuten gehörte, meinen Namen ganz ausschreiben konnte. Bis dahin hatte ich mich des „Scheer“ geschämt. Es war böse so zu heißen und ich sollte meinem Vater nie ähneln. Heute schau ich so aus wie Opa. 

Oma war toll: sie spielte mit mir im Hinterzimmer von Opas Kanzlei Okrywac, oder so ähnlich (genau kann ich es nicht mehr sagen), das an sich bedecken heißt und eine polnische Form von Black Jack ist, 17 + 4. Opa war empört, wenn er uns antraf. Vielleicht nannte sie es deshalb „bedecken“, weil wir beide immer die Karten versteckten, wenn Opa ins Zimmer kam. Für Opa hingegen holte ich heimlich Zigaretten, wenn ihm 20 filterlose „C“ pro Tag zu wenig wurden. Davon durfte wiederum Oma nichts wissen, weil sie zu Recht annahm, dass das Rauchen seine Lebenserwartung verkürzen würde. Sie liebte mich und ich liebe sie bis heute. Sie war eine starke und unüberwindliche Frau, gütig und streng.