Die Unendlichkeit

Bei jeder Biographie kommt der Moment, da man im Hier und und Jetzt ankommt. Normalerweise passiert das am Ende, oder wenn meist jemand anderer etwa ein Freund die Biographie des Verstorbenen vollendet. Gestern, am 12.06.2020 war ein Tag an dem ich als Programm leben statt schreiben hatte. 

Das kam so: Bei O.F. Kernbergs Buch zum Borderline Syndrom habe ich in der Einleitung gelesen, dass er mit seinem Opa in der Spielzeughandlung Kober am Graben an seinem Geburtstag alles was er wollte aussuchen durfte. Es gab keine Grenze, Beschränkungen des Einkaufsvolumens entstanden in ihm. Der Großvater setzte keine Grenze. Kernberg nahm dieses Beispiel als Idee für die Therapie der schwer Persönlichkeitsgestörten Patient*innen: Nicht der Therapeut hätte ihnen Grenzen zu setzen, sondern diese müssten Grenzen ihres uferlosen Bindungswunsches finden. Erst wenn sie sich selbst zu beherrschen lernten, mit ihren Verletzungen und Bedürfnissen umgehen lernten, wäre Heilung möglich. 

Seither gibt’s bei mir den Geburtstag meiner Kinder und nun derer Kindern, in denen ihre Wünsche maßgebend sind und nicht meine Möglichkeiten. Sie gehen unterschiedlich damit um: anfangs nehmen sie alles, da aber kein Widerstand meinerseits erfolgt, müssen sie zu rechnen beginnen. Manchmal wollten sie eine „Gutschrift“ für später erzeugen – die gibt’s nicht. Eine „Verhandlung“ der Art, dass: „Wenn ich heute das nicht nehme, kann ich das ein andermal haben?“ gibt’s auch nicht. Ein- und Umtausch sind nicht vorgesehen. (Meine Eltern hassten in ihren Geschäften Umtauschkunden, die zum Beispiel nach Weihnachten kamen und die Kleidungsstücke waren vielleicht schon etwas beschmutzt und offensichtlich getragen worden. Jetzt waren sie unnötig und eine Frühlingshose viel wichtiger. Daher gibt’s bei diesem Spiel keinen Umtausch.) Das Spiel funktioniert auf der Grundlage der Offenheit und Transparenz, ich darf jammern, dass es schon sehr teuer ist und trotzdem zahle ich weiter, so lange es einen Wunsch gibt. Nicht ohne Risiko.

Das ist nicht billig und nachher fühlten wir uns immer ein bisschen schlecht, verschwenderisch und über die Maßen hinausgegangen. Jedes Kind geht damit anders um: Judith ist zu alt – da gab’s das Spiel noch nicht. Anna war unverschämt: alle Elektronik und Barnie-Zubehör, sogar ein Lego Flugzeug – die Pakete beim Kober waren riesig. Samuel wusste genau was er wollte. Ich war nur Erfüllungsgehilfe. Aaron fühlte mit mir mit was ihn stark hinderte, aber die Lust obsiegte. Noah wollte alles und nahm doch wenig. Er rechnete und dachte daran, dass er manches nicht brauchen könnte. Ein Beispiel wie er 12 war: er entdeckte während die neue Spielkonsole verpackt wurde einen Scooter. Er wollte ihn weil er so schön rot war. Gemäß den Regeln des Spiels sagte ich: „Nehmen wir ihn!“ Darauf Noah: „Aber ich fahre doch nicht Scooter!“ Also ließen wir den Roller bei dem verwunderten Verkäufer stehen, der nicht verstand wieso Noah, trotz meiner Genehmigung den Roller nicht wollte.

Gestern war Mia-Fe, meine älteste, dreizehnjährige Enkelin dran. Mia und ich waren sehr aufgeregt, beide konnten wir kaum schlafen. Es war wie ein Date. Die Bedingungen des „Geburtstagsspiels“ sind schwer für mich. Ich darf nach meiner eigenen Regel nicht Nein sagen. Egal was kommt. Am Vorabend fürchte ich mich, kann’s aber nicht teilen, weil die Regel von mir stammt und sie zwar jeder kennt, aber sie mich einfach fordert. Ich frug Marguerite, ob ich auf mein Konto schauen sollte? Sie hat mir abgeraten: „Wozu?“ In der Nacht hatte ich verworrene Träume. Mein neues Bianchi Rennrad ist zwar ein Riesenspaß, aber völlig unpraktisch: kein Korb, kein Licht und leichte Beute. Ich kann damit kein Essen kaufen wie am Freitag üblich. Noah brachte sich verschlafen ein und sagte kategorisch: „Du nimmst das Fahrrad, in der Früh bewegst Du Dich gern und Du hast den ganzen Tag mehr Freude.“

Ich traf Mia im Café Prückl zum Frühstück. Sie war auch schon ab sieben Uhr wach, obwohl wir uns erst um neun Uhr trafen. Sie rief mich an als ich erst auf der linken Wienzeile war und wollte wissen wie lange ich noch brauchen würde. Im Prückl setzten wir uns mit Blick auf das Dr. Karl Lueger

Denkmal hin: nicht nur, weil der Antisemit war, war unseres Bleibens war nicht lang. Von der heiß ersehnten Playstation in der Special Edition gab’s bei Libro nur mehr EIN Stück. Das letzte quasi. Da konnten wir nicht in Ruhe frühstücken, da mussten wir sofort hin. Also Fahrrad wieder aufsperren, Landstraße Hauptstraße stadtauswärts flott gehen, Libro erreichen. Mia schenkte mir einen Mund-Nasen-Schutz und bestellte zeitgleich die Konsole mit dem Spiel um 389€. Ich zahlte. Wir gingen mit unserem Kauf zum Josef. Endlich Frühstück Was gab’s noch an Wünschen: einen Sommerkasack bei Palmers. Zurück zum Libro, ich hatte Aarons Notizbücher vergessen. Zwei Notizbücher, am Weg zu den Büchern lag noch ein Spiel für die neue Konsole – 70€. Der Kasack danach zu ihren Hot-pants war sogar in der kleinsten Größe zu groß. Da wurde es dann ein Ensemble wie es die Schauspielerinnen bei Sex and the City fürs Schlafen tragen. Probieren, probieren, in den Spiegel schauen, nochmals – es war auch sehr groß, aber es ging. Socken dazu aus Baumwolle mit aufgenähten Margueriten als Schmuck. Das wurde alles in ein kleines grünes Säckchen verpackt, Shopping macht happy. Ein echtes Parfum noch: Im Drogeriemarkt gab’s nichts dergleichen, die Tester waren verschlossen, die Parfums billig und rochen auch so. Weder Amber noch Moschus drin, alkoholische Lösungen mit künstlichen Gerüchen. Meine Empfehlung an Mia: nimm nichts, was Dir nicht wirklich gefällt. Selbst wenn Du alles haben kannst und gerade dann, wähle nichts was nicht wirklich das Richtige ist aus. Im nächsten Geschäft gäbe es vielleicht das Richtige und dann hättest Du schon den Schmarrn. Vor allem aber: Du kannst kein Geschäft mit mir machen. Wenn Du was einsparst kannst Du es nicht woanders ausgeben. Ich bin keine Bank, ich rechne nicht. Wenn Du das Falsche wählst, ist es das Falsche. Wenn Du etwas Billigeres nimmst und denkst, dass Du den Differenzbetrag bekommst, oder für morgen sparen kannst – es geht nicht. Heute ist der Tag, an dem Dir alles was Du willst, gekauft wird, morgen ist er vorbei. Daher sollst Du weder zögern, weder Dich noch mich schonen, Opa kann schon morgen tot sein und das Spiel kann vorbeigehen, wie ein Märchen. Denn es ist eine Märchensituation: Jetzt bist Du Prinzessin. Das ganze Jahr rechnest Du mit Deinem Taschengeld, oder bekommst Zeugnisgeld, oder etwas von einer Großmutter. Du kaufst meist Schmarrn. Der geht sich aus. Davon hast Du genug. Ein Parfum von Coco Chanel nicht. In so ein Geschäft schaust Du nicht einmal rein. Ein Flacon von 50 ml kostet 86.-. So viel kannst und willst Du für Parfum nicht ausgeben. Außerdem – bist Du schon reif für Parfum? Willst Du Buben, Knaben anziehen? Was tätest Du mit denen? Bist Du schon am Ende Deiner Kindheit, willst Du schon auf den Markt der Geschlechtlichkeit? Oder macht sie Dir noch Angst?

Das Parfum war dann das Ende des Shoppingtrips. Zirka zwei Kilometer vom Beginn der Landstraße Hauptstraße bis zur Ecke Hintzerstraße und es war aus. „Du hast mir alle meine Wünsche erfüllt!“; sagte Mia. Dann fiel ihr doch noch was für nächstes Jahr ein. Glücklich hüpfte sie in ihrem Zweiteiler herum, die Konsole wurde mit dem Netz verbunden, das Spiel heruntergeladen, das Parfum bekam einen Ehrenplatz – Opa, Mia und ihre Mama Anna waren glücklich. Beim Essen mit der Familie im Sternglanz erinnerten sich die Kinder an ihre Kindheit und die damalige Aufregung beim Spiel. Anna lud zum Essen ein. Großvaterfreuden in der Herstellung des Traums von der Unendlichkeit. Jahre zuvor hatte mich Mia gefragt: „Bist Du reich?“ Als ich verneinte, sagte sie: „Wie kannst Du Dir dann das leisten?“ Ich: „Ich spare woanders.“ Träume erzeugen ist wie ein Theater, wie eine Oper: es muss im Hier und jetzt passieren und ist sofort danach vorbei. Die Erinnerung allerdings kann ein ganzes Leben lang anhalten und glückliche Momente wiederbringen. Vielleicht werden sie es mit ihren Kindern auch machen und ihnen die Erfahrung der eigenen Grenze ermöglichen. 

Ein wunderbarer Tag.