Es gibt Tage, an denen es Abschied nehmen heißt

Mein guter Freund Gerd Prechtl starb im Herbst 2020. Seit 1973 haben wir miteinander gearbeitet, gestritten, gegessen, gereist, gelacht, diskutiert, Nähe und Ferne ausgelotet. Bei meinem Spaziergang am 15.10.2020 dem Tag seines Begräbnisses, habe ich innerlich eine Grabesrede gehalten. Der Unterschied zwischen dem jüdisch-schlauen und dem christlich-starken Kind, die beide in der Welt ihren eigenen Weg gehen, einander begegnen, sich trennen, voneinander lernen und in der Welt des jeweils anderen das Wahre, Gute und Schöne vermuten – am letzten Weg wird alles leicht.

Was waren wir für tolle Kerle: Gerd Prechtl, Chef der Sportredaktion des ORF, ich Gruppendynamikjungstar. Er war 1973 Gruppenmitglied, ich Co-Trainer. Sein Gesicht, seine Stimme kannte jedes Kind in Österreich – er verkehrte an den Tischen der Reichen und Mächtigen. Plötzlich wollte er Berater, Coach, Trainer werden, mehr über sich erfahren. In diesen Dingen war der Sprechgewaltige unerfahren. Sie waren meine Domäne. Ich sah Interaktionen, Motive, Vermeidungen, wo er mit seinem volltönigen Bariton einfach drübergefahren wäre. Welterfahrener Blazerträger, Kleidung, Essen – alles vom Feinsten, hatte er manchmal auf sich als den kleinen Buben aus der Remise Kreuzgasse in Währing vergessen, der aufgebrochen war, um dazuzugehören. Das sozialdemokratische Ethos immer an der Seite der Schwachen zu stehen war ihm wie mir in die Seele eingebrannt worden. Vielleicht war er noch ärmer aufgewachsen als ich. Er wuchs bei der Straßenbahn auf, Großvater war Lenker – ein hochgeachteter sozialdemokratischer Beruf. Großvater war im altösterreichischen Sinn römisch-katholisch und republikanisch. Das sind die Widersprüche, in denen die Generation nach dem 2. Weltkrieg aufwuchs, wenn sie nicht noch durch nationalsozialistische Begeisterung der Eltern und den „Zusammenbruch“ komplizierten. Ähnlich bei mir: aus dem Gemeindebau in Heiligenstadt kommend, Kind von Rückkehrern und Kleingewerbetreibenden mit sozialdemokratischer Ausrichtung. Stolzen Österreichern. Ich saß auf den Schultern meines väterlichen Großvaters Goscha am 15.05.1955 im Garten des Belvederes und hörte Leopold Figls: „Österreich ist frei!“ Kind Vertriebener und Wiedergekehrter, Wiedergutmachungswerber. Die Werte des K&K intus mit dem Wunsch Österreich zu dienen und zugleich wissend, dass dieses Land am Morden teilgenommen hatte und sich seiner Schuld nicht stellen wollte, sondern sie verleugnete – all das konnte meine Begeisterung für den Dienst nicht dämpfen.

Nun, da Gerd tot ist, sehe ich die Begegnungspunkte noch deutlicher. Er war Lehranalysand meines Kontrollanalytikers Erwin Ringel. Mit Gerds Ausbildung zum Bassbariton am Konservatorium, seiner intimen Kenntnis der Opernliteratur, seinem regelmäßigen Besuch des Opernballs und anschließend zum Beuschl mit Knödl in der Sirk-Ecke R. Gehrers danach, den Freundschaften mit Volksopernsänger*innen begegnete er Ringel (In diesem Buch habe ich Erwin Ringel als verhinderten Opernsänger beschrieben.) ganz anders als ich. Er brachte andere Saiten zum Schwingen, Saiten deren Klang ich 1978 noch nicht kannte und die ich wohl nie hören werde.

Er war Menschenkenner, aber das was ich sah, sah er nicht. Seine großen und starken Hände bewegte er oft feinsinnig, zart, konnte mit ihnen Klavierspielen – groß und stark blieben sie dennoch. Das „Dazwischen“ war ihm schwer zugänglich, in Coachings mit ähnlich großen, starken Menschen sprach er deren feine Saiten an, diese schwangen nur ausnahmsweise. 

Einmal hatten wir einen Bundesrat in seiner Import-Export Firma zu beraten. Alles ging dort schief und obwohl viel umgesetzt wurde, fehlte das Geld. Wir kamen hinein und es wurde Champagner mit Kaviar serviert. Der Herr Chef hatte einen silbernen Zerstäuber in der Brusttasche, den er viel benutzte. Nach ein paar Minuten bat ich Gerd, der ratlos war, hinaus: „Hat der Chef mit allen drei Frauen (Ehefrau, Sekretärin und russischer Managerin) ein Verhältnis? Ist die Firma wie ein Hühnerhof organisiert?“ Gerd wusste das nicht. Ich hatte Recht – die drei Frauen hintertrieben alle Initiativen der jeweils anderen und versuchten so viel Geld wie möglich auf ihr Konto zu bringen. Daran drohte die Firma des oft schon zu Mittag Betrunkenen zu scheitern. 

Vieles machte er mit Ähnlichkeit mit den Klienten wett – der Herr Bundesrat trug fast den gleichen dunkelblauen Blazer wie Gerd. Vieles gelang ihm, weil er den anständigen, den wertvollen Teil der Menschen ansprach, die Tiefen der Philosophie kannte und um die Vergänglichkeit wusste. Zog er mich hinzu sah ich manchmal mühelos den Konfliktgrund, den er und sein Klient nicht angesprochen hatten. Er musste es dem Klienten sagen, denn sagte ich es, war Widerstand das unerwünschte Resultat. Wir berieten Casino Austria, Eskimo – wir besprachen uns mit Ernest Dichter, dessen Freund er wurde. Ich war der österreichische Arzt des Erfinders des Begriffs: Image. Ernest nach einer psychologischen und psychoanalytischen Ausbildung zur Emigration gezwungen, erfand die Motivforschung

 (Die beste Beschreibung der Motivforschung durch einen böse gewordenen Schüler, nämlich V. Packard.) als Grundlage des Marketings. Gerd Prechtl pilgerte oft zu Ernests Heim in Upstate New York, holte sich Anregungen und lud Ernest und Hedy in sein Haus ein, verschaffte ihm eine Bühne, wir schrieben ein Buch über ihn. In Ernest sah er den Überlebenskünstler der es mit Schläue geschafft hatte, wo Gerd Kraft, Ausdauer und Beweglichkeit zur Verfügung standen. In Rudi Eckstein, ein vertriebener Psychoanalytiker mit Heimweh fanden Gerd und ich einen Lehrer. Rudi war ein Sozialdemokrat der Gerd sein Wien-Museum in der Villa in Los-Angeles zeigte und ihn auf dem kleinen Sessel, der aus dem Vorkriegswien gerettet worden war, Platz nehmen ließ.

Wenn man so alt wird, dass Abschiednehmen zu einem häufig wiederkehrenden Ereignis wird – man also nicht mehr Liebesbeziehungen beendet, sondern liebe Weggefährten den Weg in die Ewigkeit vorausgehen, erinnert man sich gern an stürmische Zeiten, an die Jugend und die Torheiten die man gemacht hat. Mit Gerd gab’s Torheiten genug, die rasende Fahrt von Buxtehude nach Hamburg durch das Neue Land nach einer Beratung des dortigen Spitals, mit letzter Mühe den Flieger erreichend; die Fahrten bei denen er mir sagte, dass ich nicht Autofahren kann; die zu umfangreichen Abendessen in Oberitalien wo Gerd um zwei Uhr früh zu meiner Frau, die einmal gähnt sagt, dass sie mit ihrer Fadesse den Abend zerstören würde; die Beratung von Klienten mit Hilfe der modernen Technik, die manchmal Erkenntnisse förderte und manchmal behinderte; seinen Perfektionswunsch und meine Heiterkeit darüber – alles nun vorbei.

Wie ich mich freue, dass ich 2020, im neunundsechzigsten Jahr ein Rennrad kaufte. Damit besuchte ich Gerd in seinem neuen Haus im Wienerwald und er sagte: „Weil ich arm war, muss jetzt alles so groß sein!“ Vielleicht dachte er in dem Moment, dass man letzten Endes mit einer Kiste auskommen. Wir kamen nackt zur Welt und gehen ebenso. Geh Deinen Weg, er möge ein leichter sein.