Die Amme

1924 als meine Mutter geboren wurde, gab es entweder Muttermilch oder eine Amme. Meine Oma Syska hatte keine Muttermilch. Also eine Amme: Ida aus St. Veit/Glan in Kärnten. Sie kam schon mal vor. Im 90. Lebensjahr schrieb Ida meine Mutter: „Meine liebe, liebe Sylvia!“ Am 08.02.1990. Jetzt glaub‘ ich habe ich’s verstanden: die hormonelle und geistige Ausrichtung auf ein neugeborenes Kind wird vom eigenen auf ein fremdes umgeleitet. Sylvia wurde im Bewusstsein Idas zu ihrem Kurt. Dann heiratete meine Mama einen Kurt – Gefühlsverwirrungen, wie sie Konrad Lorenz (Zur Prägungnicht besser hätte erdenken können.

So geht der Brief weiter: „Was ist mit mir los, daß ich noch nicht gedankt habe für Deine so lieben guten Wünsche? Es liegt so viel unbeantwortetes Schreiben. Die Zeitung, Verschiedenes – Schwäche, ich bin so weltverbunden und muss wissen was in der Welt vorgeht. Ich lebe noch mich hinein in das Geschehen.

Wie geht es Dir, ich hoffe alle gesund und von der Grippe verschont. Müdigkeit überkommt mich oft und muss mich ausruhen. Ich bin so weit tüchtig und mache mir alles selber außer kochen das freut mich nicht mehr. Einen Schnee können wir uns trainieren.

Langlauf ist sicher auch lustig, ich freute mich mit Dir, daß Du Dir die Freude gönnst. Damit die gute Luft. Ich habe auch eine Begeisterung zum Bergsteigen gehabt, die Bergwelt sehr liebe und auch Tränen vergoß vor Freude, es war kalt, Jugendbegeisterung. Jetzt ruht alles in mir, bin zufrieden, mein Alter ist nicht zu beschwerlich nur die Gehschwäche morgens behindert mich, mit Stock gehen muss.

Ja, meine Liebe was alles ist zu erwarten im Alter. Es sind die vier letzten Dinge, Stock, Augenschwäche, Ohren, Gehör läßt nach, Prothesen. Wann ist man eine Schönheit für das Erleben unter der Erde.

Der Frühling beginnt schon jetzt, die Vöglein piepsen auch schon. Der Winter für uns Alte wunderbar, keine kalten, nassen Füße.

Ich bedaure Dich, daß Deine junge Familie nicht beisammen sind und für Deinen Sohn nicht das richtige Eheverhältnis ist. Die Luft in Graz nicht sehr gut und Wien ist einem am Herzen mehr gelegen. Es wird schon besser werden und eine gute, erfreuliche Änderung kann wieder kommen.

Bei uns in Kärnten ist viel Sonnenschein und das macht heiter.

Viele liebe herzliche Grüße und Busserln von Deiner Dir treubleibenden Ida.

Es klopft der 90iger an nächstes Jahr. 

Verzeih mein langes Schweigen.“

Feber 1990 – Ida hat das ganze vorige Jahrhundert erlebt. Sie starb 1996, oder 1997 – ich weiß es nicht mehr. Ima fuhr zur Beerdigung und wohl auch manchmal ins Altersheim nach Kärnten auf Besuch. Allerdings konnte sie nie lange bleiben, sie hielt weder den Geruch des Heims aus noch die Vorstellung, dass aus dieser Anstalt nur ein Weg – nämlich der zum Friedhof – hinausführte.

Ima (Sylvia) und Ida: Ida war die gute, die verfügbare Mutter. Sie kochte und buk, sie trug und tröstete, sie umarmte das kleine Kind und schützte es sicher auch vor der großen Schwester, die ihr ganzes Leben eine schnelle Hand hatte, mit der sie gute Ohrfeigen austeilen konnte. Wäre man Psychoanalytiker so würde man sagen, dass meine Mutter zwei Mütter gehabt hatte: die gute Ida und die fordernde und oft abwesende Syska. So wie meine Frau Marguerite in Frau Metzentin ihre gute, schauspielernde und fördernde Mutter fand und in Barbara, ihrer realen Mutter immer und bis heute eine Mutter, für die sie da war und nicht umgekehrt. Ich hatte Frau Thoma als gute Mutter, die kochte, buk und mich nach dem Stuhlgang reinigte und meine Mama, Ima, Sylvia, die das Geld verdiente und mit beiden Beinen in der Welt stand und diese für ihre Familie zu beherrschen verstand.

Vielleicht kann ich, oder kann Marguerite, oder unsere Kinder solche Imagines wieder zusammenführen. Ich höre, dass das gehen kann, wenn die Eltern alt genug werden. 

Mütterspaltungen – ist das ein Thema der Tiefenpsychologie? Ich kannte bisher nur die Spaltung in Mutter und Hure des zu anständig erzogenen Mannes. Aber Mütterimagines, Mütterspaltung – das könnte doch ein Thema werden.

Ida musste das Haus in der Wipplingerstraße 21 in Wien 1 verlassen, als Ima fünf Jahre alt war. Es war unschicklich, dass ein Kind seine Amme länger als die ersten fünf Jahre hatte. Überdies war nun kein Platz mehr in der an sich großen Wohnung im 2. Stock: die neue Madame, die mit den Kindern vom ersten Tag an ausschließlich Französisch sprach, zog ein. Die Madame war nicht zu lieben, keine mit der man kuscheln konnte und die die Tränen der kleinen Sylvia trocknete. Sie war fordernd und förderte Schulleistungen und gutes Benehmen. Emotional verstrickte sie sich meist nicht. So konnte sie leichter scheiden, wenn es der Herrschaft gefiel. Ida hingegen weinte mit Sylvia (und wohl auch ein wenig mit Edith) als sie gehen musste. Sie kam zwar zu ihrem Sohn Kurt – aber der war ihr fremd, so wie alles in St. Veit/Glan. Sie wurde im lokalen Gasthaus Köchin, oder Küchenhilfe, lebte bei ihren Eltern mit Kurt und blieb ledig. Ein ganzes langes Leben lang.

Kurt musste nur zur Hitlerjugend – für den Krieg war es als 1923 geborener zu jung. Neben den süßen Leberknödeln, dem Brot und dem frischen Quellwasser war Ida die größte Sehnsucht Imas in ihren Jahren in Israel. Sie suchte sie gleich nach ihrer Rückkunft auf und hätte sie wohl auch gern für uns Kinder gehabt. Ida fand sich zu alt und wollte wohl auch nicht wieder nach Wien kommen. Als wir 1957 in unsere tolle, schöne, neue Wohnung in der Hintzerstraße kamen und die langwierige Scheidung der Eltern begann, hätte Ima Ida sicher gern um sich gehabt. Für uns wäre es der Start in das Wirtschaftswunder geworden, leider musste das noch ein wenig warten, bis die Scheidung durch war.

Irgendwie hat es sechs Jahrzehnte gedauert bis ich innerlich realisiert habe, dass ich keine Nährmutter hatte. Sowohl meine Mutter als auch meine mütterliche Großmutter haben mich geliebt. Genährt hat mich keine der beiden. Sie waren durchaus weiblich, richtige Frauen, aber sie produzierten keine Milch. Es war nicht Eitelkeit, oder die Angst, dass die Brust durch’s Stillen verunstaltet werden könnte – nein, das glaube ich nicht – sondern ihre Brüste hatten keine funktionierenden Drüsen. Alle meine Kinder wurden gestillt. Ingeborgs kleine Brüste und Marguerites größere – beide hatten ausreichend Milch, so wie auch meine Töchter und alle anderen, die ich kenne Milch geben können. In Israel 1951 gab’s offensichtlich keine Ammen mehr, sondern Säuglingsnahrung für die ersten drei Monate aus US-amerikanischer Produktion. Angeblich soll dieser „Mangel“, dem ich ausgesetzt war, bleibende Schäden hervorrufen. Keinen der beschriebenen habe ich: weder Bindungsstörungen noch Immunschwäche noch einen Mangel an Liebe. Vielleicht ist eine Amme gut, wenn man sie hat, aber nicht unbedingt erforderlich.