Die Rückkehr

Meine Eltern hatten Heimweh. Alle meine Großeltern waren ihr schon erlegen, sie lebten wieder in Wien. Man ging es langsam an: ein Besuch würde die Frage entscheiden helfen, ob man wieder zurück gehen sollte. Kränkungen, dass man ein Mensch gewesen war, der nicht gewollte wurde; Erinnerungen an ermordete Großeltern; ermordete Schulfreundinnen und Kollegen – verbotene Chancen und die Vorstellung wieder mit und unter „ihnen“ zu leben – unter denen, die einen vertrieben, ermordet und geschändet hatten, das sprach dagegen. Die Sehnsucht nach der Heimat, nach dem Semmering, nach dem Kaffeehaus und dem Ober, der griesgrämig die Bestellung aufnehmen würde – das uns vieles mehr, sprach dafür. So wurde 1953 auf Europaurlaub gegangen, Daphne und ich in ein Sommerheim gegeben Oma Zyska blieb bei uns in der Nähe.

Die Sehnsucht nach reschen Semmeln, grünem Wald, klaren Bächen und einem geordneten Stadtleben trieb meine Eltern an, Österreich wiedersehen zu wollen, obwohl viele Mitglieder der großen Familie von Deutschen und Österreichern ermordet worden waren. Im Sommer 1953 schifften sich Kurt und Sylvia in Haifa ein und kamen nach Triest. Von dort nahmen sie einen Zug in die Schweiz, das Land, in dem meine Großonkeln den Krieg überlebt hatte. Die Berge, die gute Luft, das viele Wasser – davon schwärmte meine Mama noch viele Jahre später. Die Ehe war erträglich: die Mama Romantikerin, der Papa Besserwisser. Sexualität funktionierte, die Liebe zur Natur verband, es war ein schönes noch junges Paar, das sich mit staunenden Augen den vielfältigen Reichtum der Schweiz anschaute. Die Schweiz war als Drehscheibe der Naziwirtschaft reicher geworden und blieb vom Krieg verschont. Äußerlich seriös und wohlanständig hatten sie die Goldplomben aus den KZ-Leichen zu Waffen und Benzin für Deutschlands Eroberungskrieg umwandeln geholfen. (So ist’s bis heute in der Schweiz: Ein weggeworfenes Papiertaschentuch ist eine Sünde, aber schmutziges Geld aus Drogenhandel, Prostitution und von Diktatoren zu handeln, ist anständig.) In Genf besuchte Sylvia ihre Schwester Edith, die bei der UNO arbeitete. In Zürich Onkel Leo – Geld war knapp, die Ausfuhrbestimmungen des jungen Israel erlaubten 10 US$/Tag, da konnte man entweder Essen, oder jeden dritten Tag logieren, oder die Seilbahn oder den Bus nehmen. Viel weiß ich nicht von deren Freuden und Ängsten – jedenfalls ging’s über Salzburg und einen Zwischenstopp in den Bergen nach Wien. Wien war nicht mehr das Trümmerfeld, das es 1945 gewesen war. Opa Oskar hatte eine Wohnung in der Wipplingerstraße 21 zurück bekommen, wenn auch zwei Stockwerke tiefer und zwei Räume kleiner als vor dem Krieg, aber immerhin. Irma und Goscha, die väterlichen Eltern betrieben das kleine Kleidergeschäft in Wien 19, Weinberggasse und wohnten im Gemeindebau. Die Semmeln waren resch, die Menschen genossen die Früchte des Marshall Plans, die Wirtschaft erholte sich und über die sieben Jahre der deutschen Besatzung redete niemand. Das haben Wehle/Qualtinger wunderbar in dem Monolog: Der Herr Karl dargestellt.

Nach zwei Kriegen in Waffenbrüderschaft und der Begeisterung für die Heimholung Österreichs ins Deutsche Reich, waren die Deutschen wieder Fremde, die man nur als Touristen duldete und Piefkinesen nannte. Meine Eltern fanden in Wien trotz allem eine Idylle, eine Existenz würde sich finden lassen. Besser als es in Israel war, wo Mangel, Not und dauernder Krieg herrschten würde es allemal sein.

Ihr Eindruck bestärkte sie nach Österreich zurückzukehren. So kam ich als Dreijähriger 1954 nach Österreich, die vierköpfige Familie zu den Großeltern in deren 2 ½ Zimmer Gemeindebauwohnung Heiligenstädterstraße 129. Dort bewohnte ich drei Jahre mit meiner Schwester ein Kabinett, in dem man abends kein Licht machen durfte. Die väterlichen Großeltern hatten das Schlafzimmer, die Eltern legten sich abends auf eine Schlafcouch im Wohnzimmer. Es war dunkel, kalt und arm. Man gründete zwei Textilgeschäfte. Die Großeltern bekamen als Entschädigung für ihr prächtiges Geschäft vor dem Krieg in Wien 3 ein kleines Lokal in Wien 19, Weinberggasse 17. Die Eltern eröffneten 1955 ein Geschäft für Waren aller Art in Wien 20, Allerheiligenplatz. 

Es kam wie es kommen musste: in der alten, neuen Stadt hielten die Ehen der neuen Freiheit, aber auch dem äußeren Druck nicht stand. Großvater Goscha hatte bald eine zweite Familie mit Paula und zwei Töchtern. Paula hatte uns Kinder anfangs betreut, oder half im Geschäft aus. Da Irma zu allen Angestellten grob war und meist zu Recht annahm, dass Goscha ihnen nachstellte, war die Zweitfamilie für’s Ehepaar keine Überraschung. Mein Vater verliebte sich in Elfriede, die bei ihm zur Anlehre war, heiratete sie später und bekam mit ihr meine beiden Halbgeschwister Michael und Daniela. Meine Kindheitsfamilie war zerbrochen. Die Scheidung der Eltern nahm vier Jahre – von meinem sechsten zu meinem zehnten Lebensjahr – in Anspruch. Bevor die Eltern sich trennten, hatten sie eine prächtige Wohnung in Wien 3, Hintzerstraße 9 gemietet Dort ging’s rund. Man sagte sich das Schlimmste, sperrte aus, verfolgte, stritt und beleidigte einander. 

Angeblich waren wir dort hingezogen, weil die Schulen im 3. Bezirk besser als in Heiligenstadt seien. Ich wurde in die das erste Jahr koedukative geführte Mädchenvolksschule Reisnerstraße eingeschult. Drei Knaben waren die ersten männlichen Schüler. So war auch die Stimmung, alles brav, Schlägereien und Schneeballschlachten mit Eisbrockerln und Steinchen erfolgten am Heimweggegen die echten Buben von Nebenan. Vier schwere Jahre: keine Freunde, nachmittags immer zu Hause, zwei Spielplatzbesuche endeten mit Beulen. Aber auch viele Freuden: Radfahren im Arenbergpark, Schifahren mit doppelten Lederschuhen und Kabelbindung im Wechselland, eislaufen am Wiener Eislaufverein. (WEV – meine einzige Verbindung zu Otto Schenk, der jahrzehntelang Obmann des WEV war.) Meine Mutter versuchte uns, trotz erheblicher wirtschaftlicher Schwierigkeiten eine wunderbare Kindheit zu ermöglichen. Als ich zehn Jahre alt war, gründete sie auf Landstraße-Hauptstraße 123 ein Damenmodengeschäft mit Hilfe einer kleinen Anleihe bei ihrem Vater, der als Wiedergutmachungsanwalt bereits gut verdiente. Ab dann nahmen wir am Wirtschaftswunder teil. Die Wäsche wurde nicht mehr mühevoll im Bottich auf dem Dachboden unseres Hauses gekocht, mit einem Riesenholzlöffel gedreht, gewaschen, geschwemmt und aufgehängt, sondern in eine Wäscherei gebracht. Die Anschaffung einer Waschmaschine wurde erwogen. Abends gab es zwar noch immer für uns drei eine Dose Sardinen (die waren allerdings zu scharf und ich aß diese Sardinen erst als Student), aber manchmal hatten wir schon Wurst, oder Alma Käseeckerln!

(von denen ein Rest blieb, der dann wochenlang im Kühlschrank vergammelte). Es waren vier Sardinen in der Dose, sodass meine Schwester Daphne und ich beim Abendessen wegen der vierten Sardine stritten. Die gütige Mama war mit einer Sardine zufrieden. Es schien uns selbstverständlich, dass wir von ihr bevorzugt wurden. So war es immer gewesen, wir erwogen nicht einmal, dass sie Hunger haben könnte.

Die Einschulung in das Gymnasium Hagenmüllergasse war dramatisch. Trotz der eindeutig negativen Prognose der Volksschullehrerin, hatte meine Mama mich zum Aufnahmetest angemeldet. Ich lief allein hin, zum ersten Mal diese Strecke. Am Tor war die Liste der Aufgenommen. Zu meiner eigenen Überraschung stand dort mein Name. Allerdings sollte das fürs erste Jahr meine beste Leistung bleiben. Ich versagte auf allen Linien, das Urteil der Lehrerin war vielleicht richtig gewesen. Mama gab nicht auf. Ich wechselte mit einem noch genügenden Zeugnis in das humanistische Gymnasium Kundmanngasse und für die Nachmittagsbetreuung in das Bundeskonvikt Josef-Gall Gasse. Alles, was man über Konvikte und fremdbetreute Jugend hört, fand dort statt: Psychische, physische und sexuelle Gewalt. Ich lernte mit all dem umgehen. Vielleicht hat mich das später motiviert 28 Jahre die Kinderschutzgruppe in Graz zu leiten und die gesetzliche Verpflichtung Kinderschutzgruppen in allen österreichischen Kinder- und Jugendabteilungen vorzuhalten gemeinsam mit M. Höllwarth einzuführen.

Ich hatte aber Glück: Gerti, gerade 17 geworden, die neue Haushaltshilfe, holte mich um 18 Uhr vom Konvikt ab, so dass ich nicht über Nacht dortbleiben musste. Georg ein Bub aus dem Waldviertel, ebenso kleingewachsen wie ich, wurde jeden Tag zwischen den bereits männlichen und stärksten Kommilitonen verlost. Er teilte dann das Bett mit dem Gewinner und wurde gebraucht. Mal so, mal so, in vielen Varianten. Zwillinge, Kinder Die des Oberkellners aus dem Moulin-Rouge, damals Wiens Nobelbordell mit Unterhaltung und Stripteaseshow kannten sich in vielen sexuellen Praktiken aus und waren für mich das reale Böse. Wie in einem Trickfilm die Nashörner des Bösen, so dominierten sie die Klasse, Widerspruch war unmöglich. Georg durfte manche Nächte den Zwillingen dienen. Dann rauften sie wieder einmal, wer der erste sein durfte. Das Abendessen erinnere ich gut: als Kleinster saß ich am unteren Ende des Tischs. Die „blechernen Platten“ mit Essen wurden beim aufsichtsführenden Erzieher am Kopfende des Tischs serviert und kamen bei mir fast leer an. So lernte ich Sardinengräten essen, die das einzige waren, was außer Brot noch geblieben war. Lediglich von der, bei allen Kommilitonen ungeliebten, kalten Blutwurst blieb mir reichlich – ich mag sie bis heute.

Schulisch führte das Konvikt bei mir zu keinem Erfolg. Ich lernte mehr lebenspraktische Dinge. So spielte der aus Ungarn stammende Erzieher Wariusz mit uns. Wenn wir am Würstelstand drei rote, scharfe, eingelegte Pfefferoni ohne Brot hintereinander äßen, bekämen wir nachmittags frei und müssten nicht schweigend drei Stunden „studieren“. Das schaffte ich und kann‘s bis heute. Erzieher hatten auch Strafen: Wir mussten uns in den  kleinen Raum unterm Schreibtisch krümmen, manchmal eine Stunde lang. Da war ich der Gewinner: die bösen Zwillinge waren schon groß, was sie nicht daran hinderte miteinander und mit anderen um die Wette zu masturbieren. Es war ein großer Fehler einen Erzieher etwas, was man in der Schule nicht verstanden hatte, zu fragen: meist wusste er es nicht und wurden böse. Strafaufgaben waren die Folge. Ich fragte nur einmal. Fragen war generell falsch. Wenn dann machen: als Kleinster konnte ich es riskieren unter dem Sichtfenster des Portiers hinauszuschleichen und gegenüber in einem Souterrainladen nach 16:30  remittierte Schinkenrollen um 1.- Schilling zu kaufen, die der Hit der heranwachsenden, jungen Burschen waren. Da waren die Zwillinge großzügig: sie luden manchmal uns alle ein und sagten es wäre vom Trinkgeld des Vaters.

Im BG Kundmanngasse und im Konvikt blieb ich nur ein Schuljahr. Etwa zeitgleich war Mutters Hoffnung auf eine neue, dauerhafte Beziehung mit einem Wiener zerstoben. Über so was sprach man an sich mit Kindern nicht. Ich erfuhr‘s erst Jahrzehnte später. Im Bundesrealgymnasium Kundmanngasse blieb in der 4. Klasse und bis zum ersten Trimester der 5. In der 5. begann der Griechischunterricht und unser Lehrer schwitzte nicht nur braun unter der Achsel, ischtbar auf dem weißen Popelinhemd, sondern war 1966 begeisterter Nationalsozialist. Nach einigen Wochen berief der gütige Direktor meine Mama und mich zu sich. Nachdem er mich in Griechisch abgefragt hatte, riet er zu einem naturwissenschaftlichen Gymnasium. Geblieben ist mir die altgriechische Schrift, die mir bis heute Freude macht. Mein bester Freund in dieser Zeit war der Fleischhauersohn Franz Luxl, der in Latein und Griechisch ausgezeichnet war und mich mit seiner vom Tragen halber Säue gestärkten Armen beschützte. Er verliebte sich viel später als Student in eine schlechte, ausschweifende und genusssüchtige Frau, brauchte Geld, wurde beliebtester Kellner im Café Museum und rauchte sich in einen frühen Tod. Mit ihm machte ich tolle Ausflüge zum Schifahren. Er raubte die Fünfschillingstücke aus dem sonntags geschlossenen Geschäft seines Vaters, wissend, dass er dafür abends Ohrfeigen bekommen würde. Dann fuhren wir mit dem Siebenuhrzug am Semmering und schleppten die Schi (meine waren aus Holz und bei 135cm Körpergröße 210cm lang) zur Talstation Hirschenkogel und fuhren mit dem Sessellift hinauf. Einmal war es im Frühjahr schon etwas apern. Franz sprang über die Kante des Forstwegs, der die Piste schnitt, flog in hohem Bogen in die Luft und landete – im Kies. Die Wunden wurden mittels Schnaps und Bier in Maria Schutz behandelt. Dann ging‘s mit dem Bus zur Bahn, erschöpft und glücklich den Schimpfern meiner Mama und den gewaltigen Ohrfeigen seines Vaters entgegen. Einmal versäumten wir die Bahn fast. Wir waren im Hotel Panhans eingekehrt, wir müssen lustig ausgesehen haben: ich im roten Anorak, Wollhose, Luxl mit einer windabweisenden Jacke, knapp 14 Jahre alt und tranken Drinks, meist Cola Rum. Dann schnallten wir die Schi in dem schmalen Weg gegenüber dem Panhans an, betrunken wie wir waren kannten wir keine Gefahr und fuhren durch den Wald zum Bahnhof ab. Nur der Schutzengel der Jugend hat verhindert, dass ich dort verletzt wurde, oder gestorben wäre. Das waren schöne Zeiten, in denen wir Kinder Freiheit und Wagemut in der alten, neuen Heimat genossen.