Seetage 28.2. - 2.3. - Lesen und verstehen: 2.3.

In all dem Wirrwarr der Zeit habe ich offensichtlich zweimal denselben Tag angegeben. Jedenfalls ist heute der 02.03. Mag sein, dass das verwirrend ist – für mich ist es das jedenfalls. Wenn die Eindrücke seltener werden, werden die wenigen viel. Ich bemerke, dass ich hier Fernsehen und Filme schlecht ertrage, sie drängen sich zu sehr in mein (Bewusst-)sein, ich sehe sie dann zu oft. Lesend kann ich besser dosieren, ich mache die Filme selbst, oder eben nicht.

Der Krimi: Die Schlingen der Schuld ist gut ausgegangen. Der Detective hat’s knapp, aber doch überlebt, alle Mörder tot, kein Gerichtsverfahren – es begann in der Wüste zwischen Perth und der australischen Nordküste und endete auch dort. „Das ist der Ruch der bösen Tat, dass sie Böses nur gebären mag!“ Hier wieder: ich bin es gewohnt solche Zitate nachzuschauen, weil mich die Erinnerung oft täuscht und ich denText einem anderen Autor zuschreibe, oder fehlerhaft zitiere. Das fällt am Schiff weitgehend weg. Das Internet ist teuer und zwar in beidem Sinne: finanziell und hinsichtlich der Verfügbarkeit.

Denn wir sind in der tasmanischen See, die das Schiff heftig bewegt. In der Nacht hat die Gischt bis in unser 8. Stockwerk salzige Tropfen auf den Balkon geweht. Macht man bei offener Balkontüre die Gangtüre auf, so weht es unbeschwertes Papier auf den Gang, ein Papierbeschwerer hätte hier erstmalig Funktion, wenn es denn „unbeschwertes Papier“ gäbe.

Ich bereite mich auf Hamlet in Sydney vor. Vielleicht stimmt sogar Tag und Stunde, vielleicht werden wir an Land gehen können, die weltweite Sorge wegen des Coronoavirus macht Prognosen unsicher. Wir wissen nicht wie die Reise weitergehen wird, selbst das letzte Ziel  Venedig ist von heute aus, unsicher.

Shakespeares Hamlet. In dem zitierten Buch: Matt Heig: „Wie man die Zeit anhält“ begegnet der Held Tom Shakespeare im Golden-Globe-Theater, in dem er musiziert. Der Roman ist ein Traum Mister Heig‘s. Denn das Phänomen der Alterslosigkeit  um das es dort geht (wie in einem anderen Blog erzählt) ist nicht bekannt. Also ist es entweder gut versteckt, oder es gibt’s nicht.

Ebenso ist es bei Hamlet: das Auftauchen eines Vaters aus dem Fegefeuer ist mir nicht untergekommen. Ist mir auch mein Vater im Traum erschienen, um mich über seine Existenz nach dem Tod zu unterrichten und mich aufzufordern mein Leben, das Atmen, das Essen und das Lieben zu genießen, so ist er mir doch nicht leibhaftig erschienen, weder auf einem Söller meiner Burg noch in meinem Garten. Mag sein, dass das so war, weil ihn Niemand umgebracht hat, vielleicht auch weil ich kein Prinz bin und nicht auf Elsingor lebe, vielleicht auch, weil es keine Toten gibt, die erscheinen und Rache fordern.

In meinem inneren Film ist und bleibt Oscar Werner Hamlet. Obwohl ich den Text im altenglischen Original am Smartphone lese, trotzdem ich Sir Lawrence Olivier als Hamlet im Film gesehen habe – die Existenz zwischen Verrücktsein und konzentrierter Durchführung des Racheauftrags, hat für mich keiner so glaubhaft wie O. Werner dargestellt. Jeder andere Schauspieler hat sich anscheinend für eine der beiden Seiten entschieden: mal war es der verrückte Hamlet, mal der seinen Racheplan konsequent durchführte. Alle Maßnahmen Claudius des bösen Onkels überstand, bis hin zur Vereitelung der Ermordung mit Hilfe seiner Schulkollegen Rosenkranz und Güldenstern. Nur O. Werner gelang es gleichzeitig listenreicher Rächer und verrücktgewordener Prinz zu sein, der angesichts der Zustände in Dänemark die völlige Auslöschung der innerlich verfaulten Monarchie herbeiführte.

Wenig macht mir so Spaß wie ein Theaterstück im Kopf. Dahinter treten die Gespräche, die Sorge, ob ich zu dick, oder zu dünn bin; Essenszeiten; die Frage, ob ich gut, oder schlecht geschlafen habe zurück, werden lächerlich, oder um Hamlet zu zitieren: awry. Was kann besser sein, als Shakespeares Erfindung eines Prinzen in Dänemark, der so zu rächen hat, wie Orest (die Ermordung seines Vaters Agamemnon durch Klytemnästra und ihren Geliebten Ägist)? Was stimuliert mehr, als die Geschichte einer unausweichlichen Rache? Man komme mir nicht damit, dass das Schnee von gestern ist. Was erleben wir bei der Entwicklung der Kolonialvölker? Warum will Neuseeland den Union Jack nicht auf seiner Flagge haben? Weshalb werden Straßen und Plätze in NZ mit maorischen Namen versehen, die Maorikultur plötzlich wertgeschätzt, nach vielen Jahren der Zerstörung, oder Missachtung? 

Morgen kommen wir nach Melbourne: inwieweit ist die Verbindung Australiens zum Commonwealth noch haltbar, wer will heute englische Strafgefangene in Tasmanien? Wer will ein Kind der Deportierten sein? Zuletzt: wenn es stimmt, dass Australien die Klimaschutzforderungen ignoriert und das als europäische Weichheit und wirtschaftliche Dummheit ansieht, wollen Europäer dann helfen, wenn Buschbrände Landstriche verbrennen?

Wovon träumen wir? Wofür gibt Hamlet sein Leben?

Von einem besseren Leben in der Zukunft? Von unserer Verantwortung für das Leben der Kinder und Kindeskinder? Von unserer Verantwortung für die Welt, den Planeten, auf den wir gesetzt wurde, oder auf dem sich Leben zufällig auf Grund eines seltenen vorkommenden Abstands zwischen Zentralgestirn und Planet entwickelt hat? Können wichtig nehmen, wenn wir doch ein Zufall wären und annähmen, dass das Leben eine Folge dieser Konstellation ist? Warum gerade für unsere Art eintreten von viele meinen (auch A. Koestler), dass sie einen Produktionsfehler hat: einerseits kriegerisch und vernichtend, wegen der genetischen Selektion und überhaupt, andererseits mit Intelligenz ausgerüstet, so dass diese Grundeinstellung zu Massentötungen führte und zur Vernichtung der Belebbarkeit des Planeten führen kann. H. Jonas gibt eine Antwort: setzt man die Existenz und das Überleben der Menschheit als nicht in Zweifel zu ziehende Annahme des „Guten“ ein, so muss man auch ohne Gottesbegriff die Menschheit in ihre Verantwortung für die Zukunft nehmen. Findet man aber, dass der Planet mit den Echsen und Dinosauriern genauso gut bedient war und nach uns vielleicht etwas Neues entstehen wird, dann endet diese Verantwortung und savoir vivre wie ich es am Schiff erlebe, kann allen Menschen verordnet werden.

In Melbourne wird chinesisch gegessen und koscher für Pessach eingekauft. Stay tuned!

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