Meine Chefs

Ingomar Mutz sagt: „Man kann von jedem Chef was lernen – von den guten wie den schlechten. Er hatte einen Chef auf der Internen, Prof. Gotsch, der einmal pro Jahr Chefvisite machte. Da ließ er sich alles über einen Patienten erzählen, ersuchte strengen Tons noch, dass dieses oder jenes Elektrolyt bestimmt wird, versicherte dem Patienten, dass er sich das dann ansehen würde – und kam ein ganzes Jahr nicht mehr.

Ich hatte Hans Zimprich, Erwin Ringel, Ronald Kurz und zuletzt E. W. Muntean als Chefs. Sie alle prägten mich, so wie die vielen anderen, die ich in Rahmen meines Turnus kennen gelernt habe. Da waren die damals berühmten Professorn Mlczoch, Baumgartner, Moritsch – um nur einige zu nennen. Sie leben beinahe nur mehr in meinen Erinnerungen, da sie vor der Einführung des Internets wirkten und daher praktisch verloren sind.

In dem was man von Vorgesetzten erinnert, erkennt man sich selbst. Ingo spricht von Prof. Messner immer – wie in einem griechischen Versepos – als: „Mein verehrter Chef.“ Da muss er dann so wenig einen Namen sagen, wie wenn Homer von dem Listenreichen spricht und der Zuhörer weiß, dass es sich um Odysseus handelt. Einen solchen Solitär kann ich nicht vorweisen.

Hans Zimprich, der 2020 gestorben ist, war ein mutiger und experimentierfreudiger Mensch. Einzelkind zweier Ärzte aus Mautern/Donau war er Liebling seiner Mutter. Vom späteren Erzbischof von Wien, Franz Kardinal König mit einer Weinbauernstochter aus Langenlois verheiratet, kam er in der Achtundsechzigerbewegung von seinem niederösterreichisch-katholischen Weg ab. Er ließ sich scheiden, heiratete Vera – seine Lebensliebe, eine fleischige, lustige, ehrgeizige Frau und sie gingen in die USA. Seine konservativ-katholischen Kontakte verziehen ihm das nie. Er wurde aufmüpfig, frech und verscherzte es sich in den Tagen vor seinem Habilitationskolloquium mit Hans Asperger, der ihn dafür strafte. Er wurde nie Dozent oder Professor. Seine Liebe zu den Frauen bestimmte sein Leben. Als Kinderarzt kompetent, als Chef widersprüchlich, manchmal desinteressiert. Er war der Welt müde bevor er sie erobert hatte und vielleicht, weil manche Eroberung nicht gelang. Als Pensionist eroberte er an Veras Seite als Psychotherapeut noch Russland. Seine Heldentaten, wie die Einführung der Infusionstherapie im Karolinen Kinderspital blieben unerwähnt. Seine Stellung in der österreichischen Pädiatrie war umstritten, er machte den Anschein als bräuchte er keine Freunde, er war der reiche, schöne Erbe – er trug seinen Promotionsanzug bis ins Alter, seine Haare schnitt Vera und seine Rasur war schlampig. Er erschien undiszipliniert, war kaum zu Zugeständnissen an die Form und Sitte bereit – wir Mitarbeiter*innen mochten ihn, sofern wir nicht um dieselbe Frau ritterten. Was habe ich von ihm gelernt? Selbstdisziplin, aufrechten Gang und Liebe zu den Menschen. Manches mit ihm als Vorbild, manches mit ihm als abschreckendes Beispiel.

Erwin Ringel habe ich in dieser Biographie und in manchen Buchartikeln erschöpfend beschrieben. Seine Art der Kürzestpsychotherapie, seine Vortragskunst und sein Instinkt in akademischen Dingen hat mir sehr geholfen. Vor allem aber war seine Zuneigung zu mir sehr schön.

Ronald Kurz war die gütige Strenge in Person. Er wollte gern demütig sein, aber es gelang ihm nicht immer. Das Kind, sein Patient war ihm immer das wichtigste. Er sich selbst schon weniger. Allerdings versuchte er die Würde des Abteilungsvorstands, des Klinikvorstands zu verstecken – dennoch stellte er sich immer als „Vorstand“ vor. Von ihm konnte man lernen: Liebe zum Kind, Achtung vor den Kollegen, scheinbare Schwäche, die sich letzten Endes oft als wahre Stärke herausstellte und vor allem die umfassendste medizinische Bildung. Seine Anforderung an mich als stationsführenden Oberarzt alle Befunde meiner Patienten auswendig zu kennen, hat mich geschult. Er war mir in fast allem ein Vorbild, manchmal hätte ich ihn mir strenger, kämpferischer gewünscht, manchmal entschlossener, herzlicher, verbindlicher – aber das lag dem ihm nicht.

Mein Nachbar als Oberarzt E. Wolfgang Muntean war ein wandelndes Lexikon. Er wusste fast alles was man wissen sollte. Sein bester Satz war, wenn irgend jemand über Prof. Kurz lästerte: „Weil wir alle klüger sind, ist er’s geworden!“ Er musste es werden. Sein Vater hatte sich trotzdem er als Radiologe gut verdiente, nie eine größere Wohnung oder ein Haus gekauft, weil er auf DEN Ruf wartete, auf eine Professur. Seinem Sohn gelang’s. Er wurde mein Chef. Das war nicht immer leicht zuzuschauen. Es kamen die beiden anderen, die die Berufungskommission ausgesucht hatte zu uns auf Station. K.-P. Zimmer und ein blasser, netter Nephrologe aus Deutschland. In Österreich, besonders in der noch jungen Medizinischen Universität Graz werden vor allem Leute berufen, die schon im Hause sind. Den Deutschen kann oder will man keine Berufungszusagen machen. Selbst die, die man macht pflegt man nicht einzuhalten. Also wurde es Wolfgang, ich fand zu Recht. Seine Führungsqualitäten waren bescheiden, er wusste das und versuchte die Abteilung durch kleine Anregungen zu steuern. Große Gefühle, Konfliktschlichtungen, Auseinandersetzungen erschienen ihm Zeitverschwendung zu sein. Sein wissenschaftliches Werk war die Aufklärung der Blutstillung des Neugeborenen, das noch keine klassische Blutgerinnung hat. Wieso das Baby trotzdem nicht verblutet – das hat er herausgefunden. Das bleibt und das ist das Bewundernswerte. Leider brauchte ich sehr, sehr lange bis ich verstand, dass ich ihm unwichtig oder unsympathisch war. Vielleicht wollte ich das nicht sehen und alle Zeichen, die das eindeutig zeigten, verleugnete ich. Da ich schon ohne Neid seinen Aufstieg begleitete, erhoffte ich mir dafür Anerkennung. Leider konnte Wolfgang sich nicht vorstellen, dass ein Mensch keinen Neid hatte und unterstellte mir Falschheit. Er betrog mich bei der Übergabe seiner BUWOG Wohnung, gab mir keine neuen Mitarbeiter*innen, er verteidigte mich nicht in meiner Auseinandersetzung mit meinem Oberarzt – mir wurde unsere Beziehung erst klar, als ich ihn nach einem Eingriff an seinem Herzen täglich in der Rehabilitationsklinik anrief und erkennen musste, dass er diese Anrufe nicht mochte. Was habe ich von ihm gelernt? Aufstieg macht nicht glücklich. Aber wie er so treffend sagte: „Wir alle reden über Kollegen, die den Aufstieg geschafft haben und beleuchten ihr privates Unglück. Aber wären sie nicht genauso unglücklich, wenn sie weiter unten wären. So sind sie unglücklich und erfolgreich.“ Recht hatte er.

Alles ist vorbei, alles Schnee von gestern. Was bleibt? Die Erkenntnis, dass ich diese Chefs viel zu ernst genommen habe, von ihnen Anerkennung und Lob wollte und seltener bekam, als ich es wollte. Schaue ich meinem Enkel Jonathan zu, wie er am Abend da sein Cousin kommt von diesem Anerkennung will, braucht, erheischt bin ich mir etwas weniger böse, dass ich viel Zeit für das Streben nach Anerkennung gegeben habe.