Bamya - das Lieblingsgemüse meines Vaters

Die Erinnerung gibt es in vielen Arten: bildliche Erinnerungen, Geschmackserinnerungen, optische Erinnerungen und Erinnerungen an Träume. Ein Gemüse, das mein Vater liebte, löst eine Erinnerung aus. Er war Koch und hat sich in Israel, wo er von 1938 – 1954 lebte in dieses Gemüse verliebt. Es ist mehr eine Geschmacks- und Geruchserinnerung für mich, deshalb muss das Rezept so sein, wie ich es beschreibe.

Seit meinem fünfundsechzigsten Lebensjahr fahre jährlich für einen Monat, oder sogar länger nach Israel. Dort wohne ich mit meinem ältesten Sohn Sämy in einer Wohnung und koche oft. Meine Frau Marguerite sagt, dass mich das beruhigt und die Familie isst gerne mein Gulasch, meine Rindssuppe und meine Braten mit viel Gemüse und wenig Sättigungsbeilagen. Außerdem liebe ich den Geschmack der Früchte und des kleineren Angebots in den Märkten. Israel importiert nur sehr wenig Gemüse und Früchte und belegt sie mit hohem Einfuhrzoll, weil sie sich dem Prinzip einer autonomen Wirtschaft verpflichtet haben (wegen der Kriegssituation) und ungern Devisen dafür ausgeben. Daher gibt’s saisonale Unterschiede, im Sommer Beeren und im Winter Bananen.

Heute habe ich am Shuk Carmel Bamya (Okragekauft. Ich finde das bisweilen auch beim Inder am Brunnenmarkt in Wien 16, aber wirklich kann ich es in Israel kaufen, wo 500 Gramm die Hälfte, nämlich 4 – 5 Euro kosten. 

Es war das Lieblingsgemüse meines Vaters. Sein = unser Rezept ist viel einfacher, als die Rezepte, die ich im Netz finde.

Ich wasche die Früchte und schneide ihnen NICHT die Stile ab. Erstens mag ich die Stile, zweitens hat mein Papa sie auch nie abgeschnitten und drittens gibt die Frucht beim Erhitzen auch unversehrt soviel Schleim ab in den die Kerne gebettet sind. Schneidet man die Stile ab dann werden die Früchte allzu weich. Ich röste eine Zwiebel an, eher hell geröstet und gebe dann etwa 2/3 des Gewichts an frischen Tomaten hinzu, die ich sehr wenig bearbeite: ich schäle sie nicht, ich schneide den Stilansatz auch hier nicht heraus und warte auf den sich aus den drei Gemüsen ergebenden Saft. Kein Wasser kommt hinzu. Kein Gewürz außer Salz – wenn man das ein Gewürz nennt. 

Mein Vater servierte es zu allem. Er war immer sehr glücklich, wenn er Bamya irgendwo fand. Manchmal kaufte er auch Bamya in Tomatensauce in Dosen – und war verzweifelt. Das Dosenfutter schmeckt immer nach der hinzugefügten Ascorbinsäure, schlechten Tomaten und anderen Konservierungsstoffen. Man aß es und hoffte, dass es wieder einmal frische Früchte geben würde.

In Gerüchen und Geschmäckern erinnern wir. Der Geruch ist unser phylogenetisch ältester Sinn. Er funktioniert wie ein Steckwiderstand. Wir setzen aus etwa 150 verschiedenen Gerüchen und Geschmäckern den jeweiligen zusammen. Dieses Muster wird lebenslang erinnert. Das ist wahrscheinlich biologisch klug, weil wir so Giftiges und Ekeliges immer vermeiden. So erinnern die Meisten das Getränk mit dem sie sich das erste Mal betrunken haben und vermeiden es ab dann, vor allem, wenn sie sich danach erbrochen haben. Darüber habe ich einmal etwas geschrieben, als ich für Kinder- und Jugendärzte über die neurologischen Nobelpreise des letzten Jahrzehnts schrieb. Ich erwähnte Richard Axel und Linda Buck, die für die Entdeckung und Erstbeschreibung der mikrobiologischen Umstände des Geruchssinns und zur unmittelbaren Info.

Es ist komisch, aber wenn ich Bamya schmecke, sehe ich meinen Vater, der fast 40 Jahre tot ist, in seiner wunderbaren aber einzeilig-kleinen Küche stehen und Bamya machen. Er war ein schneller Koch: zwischen dem Auspacken der Früchte und ihrem Service vergingen nur wenige Minuten. Bamya soll nicht zu weich werden. Bamya wird vor allem zu Fleisch gereicht. Heute – am 09.12.2019 – gab es Bamya zu dem Beinfleisch zu Mittag; am Abend habe ich Bamya aufgewärmt und ein wenig Beinfleisch dazugegeben – allerdings war ich zu gierig und wartete nicht bis alles so richtig warm war. Es löste aber die Erinnerung an meinen Vater aus und schmeckte daher sehr gut.