Meningokokkenmeningitis – ein Todesurteil?

In einem Nachtdienst 1976 nahm ich als Arzt in Ausbildung einen dreizehnjährigen Knaben mit eindeutigen Zeichen einer Gehirnhautentzündung auf: er litt an Bewusstseinstrübung, Nackensteifigkeit, hohem Fieber, hatte kleine Punkte auf der Haut der Beine. Ich legte ihn auf die Infektionsabteilung, die von einer konservativen Schwester geführt wurde. Sie empfing mich mit den Worten: „Die kommen zum Sterben her!“ Oberärztin H. Holzer hatte ein Jahr zuvor aus der Univ.-Kinderklinik Zürich ein Behandlungsprotokoll für diese Erkrankung mitgebracht, das es als ein einfaches Blatt im sogenannten Weißbuch gab. An Hand dessen behandelte ich den Knaben, der gesund das Spital verließ.

Es war meine Sturm- und Drangzeit. Ich hatte mit 24 Jahren promoviert, einen Monat später als Gastarzt im Karolinien Spital der Stadt Wien, 9, Sobieskigasse, meinen ersten Posten angetreten. Wie das kam, erzähle ich in der Geschichte: Philosophie als Schuhlöffel. Sofort musste ich Nachtdienst machen, weil urlaubsbedingt sonst niemand verfügbar war.

Ein dreizehnjähriger Knabe kam in schlechtem Zustand in die Ambulanz: Hohes Fieber, Bewusstseinstrübung, Kopfschmerzen, hohes Fieber und auf der Haut kleine schwarze Punkte, die die für Meningokokkenmeningitis typischen intravasalen Gerinnungsherde darstellen und oft als „Ausschlag“ fehlgedeutet werden. Das war erfreulicherweise nicht der Fall. Der Nacken war durch die Entzündung der weichen Hirnhäute reaktiv verspannt, fast steif, die Diagnose: Meninigitis, Hirnhautentzündung. Auf der Infektionsabteilung gab es wunderschöne, alte Glaskojen aus der Errichtungszeit des Karolinen Kinderspitals, damit man die Patienten, ohne einzutreten begutachten konnte. Ein schönes, frischgemachtes Bett, weiße gestärkte Bettwäsche, ein sauberes Nachthemd – das war alles, was in der ersten Stunde nach Aufnahme durchgeführt worden war. Ich hatte inzwischen den „Waschzettl“ aus Zürich aus der Ärztebibliothek besorgt und machte mich an die Umsetzung. Erster Schritt: Lumbalpunktion. Man hatte zwar das Besteck, aber es wurde dort nur in den seltensten Ausnahmefällen benutzt, ich hatte es noch nie gemacht. Mein Vorgesetzter für die Nacht Dr. Alois Piperger, damals Assistenzarzt führte gleichzeitig eine Familientherapie durch und sagte, dass er keine Zeit hätte. Ich war durch meine Ausbildung daran gewöhnt Eingriffe vorzunehmen und Dinge zu machen, die ich nicht konnte, von denen ich nur theoretisch wusste. Die Anordnung der Infektionsabteilung war, dass das Kind in seinem Bett zu behandeln war, eine Kontaminierung der Station war nicht statthaft. 

Also zuerst den Augenhintergrund beurteilen, ob Hirndruckzeichen vorhanden wären – wenn, dann hätte man liegend punktieren müssen. Ich sah bei den nicht eingetropften Augen, nichts. Ob ich mit einem Tropfen Atropin und der dadurch erweiterten Pupille mehr gesehen hätte, wer weiß? Dann also die Punktion: die Schwester setzte den matten, fast bewusstlosen (soporösen) Knaben Querbett. Ich desinfizierte den Rücken mit einer Jodtinktur, mit der ich auch die Oberränder des Beckens anzeichnete, in dieser Höhe soll man in den Liquorraum einstechen, da dort die Blutgefäße des „Schwanzes“ noch nicht anzutreffen sind und der Sack, in dem die Gehirnflüssigkeit schwimmt groß genug ist, um Liquor zu gewinnen. Die gebrauchte, sterilisierte Punktionsnadel (Da schmunzle ich: was man heute alles hat und verwendet. Ich hatte eine Nadel und sonst nichts.) wurde mir übergeben. Ich saß hinter dem Rücken des Knabens auf einem Schemel, die Schwester nahm von der anderen Seite des Betts den Kopf des Knaben in den „Schwitzkasten“ und beugt den Rücken so weit wie es die Anatomie und die Krankheit zulassen. Ich suche mit dem jodierten Fingernagel des Daumens den Zwischenraum und steche, die Nadel aufwärts führend, ein. 

Tatsächlich: Anfängerglück. Nach zweimaligem Klicken, also dem Durchstechen der beiden Bindegewebe, ziehe ich den Metallstab, der in der Nadel ist (Mandrain) zurück und trüber, zäher Liquor tropft in die Eprouvette. Das ist an sich in Zusammenschau mit dem klinischen Erscheinungsbild für die Diagnose ausreichend. Natürlich muss man den Liquor im Labor analysieren. Also suche ich das Labor auf und rufe Dr. Piperger wieder an, als ich im Mikroskop unendlich viele Leukozyten sehe. Er konnte nicht kommen, vielleicht auch, weil ich mit Ingeborg, der Liebe seines Lebens liiert war, die später meine Ehefrau und die Mutter meiner zwei Töchter werden sollte. Ich zählte anschließend die Leukozyten in der Fuchs-Rosenthal Kammer aus. Das ist nicht so einfach: Man nehme einen Milliliter Liquor und vermische den mit 10 Milliliter Hämatoxyllin in einem Melangeur. Das kann man sich so vorstellen, dass man mich als Fünfundzwangzigjährigen zitternd im Labor sieht, im Mund einen Gummischlauch mit Mundstück in der Größe eines Strohhalms an dem ein kleines Glasding hängt, das in der Mitte aufgetrieben ist. Ich sauge damit 1 ml Liquor auf, das gelingt, und dann 10 ml Färbeflüssigkeit, die ich anders als die med.-technischen Assistentinnen, die unter Tags im Labor sind, nicht in eine kleine Schale geben, einfach weil ich das nicht weiß. Also saugen aus der dunklen Flasche, auf die rote Einteilung auf dem Glaskolben starrend. Es kam wie es kommen musste: ich hörte erst auf, als ich die alkoholische Flüssigkeit im Mund spürte. Natürlich hätte ich mich dabei anstecken können. 

Mein Befund unterstützte die Diagnose eitrige Gehirnhautentzündung. 

Zurück auf die Station. Abarbeiten der Anleitung. Äußerung der Stationsschwester: „Da haben wir nie was g’macht!“ Wir wurden keine Freunde mehr. Legen einer zentralen Leitung, die zarten Leitungen, die heute Verwendung finden, gab’s noch nicht. Sie sind meiner Meinung nach meine Erfindung, die nie als meine bezeichnet werden wird. Es wurde eine im Umfang riesige Nadel in die Vene im Ellbogengelenk eingeführt durch die man einen Plastikschlauch einführen konnte. Es war das erste Mal auf der Inf., dass das angewandt wurde. Kommentar der Schwester überlass ich der Phantasie der Leser*innen.

Dann wurde hochdosiert Cortison gegeben, Heparin und Penicillin. 2020 ist die Therapie etwas anders, aber 1976 war sie so. Die Infusionstherapie auf der Kurve vorgeschrieben, ebenso die anderen Anordnungen. Dekursus morbi in der Krankengeschichte eingetragen – alles erfolgreich, nur gut, dass inzwischen kein anderer Patient kam.

Da ich am Tag in der Psychosomatik arbeitete, sah ich jeden 3. Tag zu dem Knaben, dessen Name ich vergessen habe. Der Chef Hans Zimprich und Hiltrud Holzer waren von meinem Einsatz begeistert, die Leiterin der Infektionsabteilung entsetzt. Sie musste plötzlich Neues lernen, sie war geistig in der Vorinfusionszeit und das Sterben der Kinder an dieser Erkrankung war für sie, wie für ihre Schwestern selbstverständlich.

Es ist eine gute Erinnerung, an meine Angst etwas falsch zu machen, an meinen Triumpf über die Fehleinschätzung in der Dringlichkeit durch meinen späteren Freund Piperger, an die Möglichkeiten in einem Wiener Kinderspital bevor durch Bürokratie und Regelungen ein solcher Einsatz nicht mehr denkbar gewesen wäre, an meinen Mut und meine Entschlossenheit ohne Wissen und Erfahrung einfach um das Leben dieses Burschen zu kämpfen. Ein komisches Ärzteleben: fast ohne Ausbildung immer wieder in Unbekanntes und Ungekonntes gestoßen zu werden. Das war – wie hier – mit Erfolgen, aber auch mit Misserfolgen verbunden.

Für meine Leser*innen: die Blogs: „Ein Philosoph wird mit Hilfe eines Philosophen Kinder- und Jugendfacharzt“ und „Die Erfindung des Venenzugangs für Kinder“ kommen in Kürze.